Nehee, ich bau' 'nen Neemann

Mösjö Frechmaus pennt noch. Es ist bald 8 Uhr, bleiben etwa fünfundvierzig Minuten, um hier alle startklar für Kindergarten und Spielgruppe zu machen. Inklusive Frühstück. Und der ein oder anderen Entdeckung, experimentellen Episode, großangelegten Suchaktion nach allem Möglichen und schließlich der zähen Diskussion um das heutige Fahrgerät. Während ich noch darüber sinniere, weshalb Mösjö Frechmaus uns am Wochenende grundsätzlich um 6e weckt und warum er nicht da mal so lange schlafen kann, sehe ich dutzende mini kleiner, wuscheliger Bällchen durch die Küche rollen. Angetrieben von Krümelchens Hand. Bällchen, die unser Großer Lieblingsmensch und Papa der beiden Frischlinge, am Vorabend eigentlich zum Spielgruppenelternabend mitnehmen wollte, um auf kleinwüchsigen Holzstühlchen Sockentiere zu basteln. Stattdessen wuseln diese nervigen Flauschdinger nun also auf unserem Küchenboden herum. In bester Gesellschaft mit diversen Schätzen aus der Kinderküche, aus Spielzeugkisten, Krümeln und eingekrusteten Marmeladenresten. Dass Krümelchen die Bällchen schnellstens wieder einsammeln soll, haben wir bereits geklärt. Denkste. Als ich den aus seinem Dornröschenschlaf erwachten Mösjö Frechmaus begrüßt habe, rufe ich in die Küche, ob der andere kleine Herr denn aufräume. Die Antwort kommt prompt, im flötenden Kinderstimmchen keine Spur von Reue: "Nehee, ich bau' 'nen Neemann!" Er sitzt da, inmitten der bunten Flauschies und versucht emsig, drei Bällchen aufeinander zu stapeln.

Nachdem Mösjö Frechmaus ein paar Parolen à la Kindergarten rausgehauen hat ("na, wenn du das so ausleeren musst, musst du's halt auch ALLEINE wieder aufräumen" Hoooocherhobener Zeigefinger in der Stimme), helfen wir alle zusammen, um der Verwuselung ein Ende zu bereiten. Dass beide Kinder sich hierbei unablässig (Aufräum-)Spiele ausdenken, nehme ich einmal mehr staunend zur Kenntnis.

So. Fertig. Frühstück und damit nächstes Kapitel...

Bordüre

Kino

Mösjö Frechmaus und Krümelchen dürfen eine Sendung schauen. Das Format, das sich um eine ziemlich groß geratene Maus und ihren kleinen, berüsselten Freund dreht, finde ich selbst tierisch gut und so lümmeln wir als gemeinsame Auszeit gerne zusammen auf dem Sofa, staunen über das, was wir da sehen und machen dann das ein oder andere gleich nach. Die mit durchsichtigem Faden diagonal durchs Wohnzimmer gespannte Führungsleine direkt unter der Decke, ist noch ein Relikt aus dem letzten Jahr, als wir eine Ballonrakete gezündet haben, um so einen Versuch zum Prinzip des Rückstoßes à la Maus nachzubauen. Die bunte Brausetablette in einer Plastikspritze als Variante, hat es dann allerdings doch nicht bis in die gute Stube geschafft. Spießer.

Also jedenfalls gibt's auch heute eine Folge guter Einfälle und da Krümelchen letztens das Wort "Kino" aufgeschnappt hat, verdunkeln wir unseren Saal ein bisschen mit knarzenden Rollos und machen uns Popcorn. Und obwohl wir ansonsten nichts anders machen, als sonst, strahlen die vier Kinderaugen wie Glühwürmchen. Kinderglück ist eigentlich so einfach.

Bordüre

Regenhirm

Dieser Sommer ist verrückt. Mal regnet's und ist kühl, dann gibt's 40 Grad und dann - zack - mal eben wieder 20 Grad weniger. Und immer ist man nass. Mal vor Schweiß, mal von oben. Gerade schüttet es, nach der letzten Hitzewelle gar nicht übel. Unser großer Lieblingsmensch, Papa, kommentiert das mit einem etwas matten "jetzt regnet das schon wieder". Bei Mösjö Frechmaus klingt das eine halbe Minute später so: "Ja! Regen! Wir machen einen Regenspaziergang!" Da geht ein Strahlen über das Papa-Gesicht: "Au ja!" Krümelchen, der mittlerweile auch schon eher ein großer Krümel ist, wetzt begeistert Richtung Flur: "Ich hol schon mal meinen Regenhirm!!" Allerhöchstens fünf Minuten später sind die drei Herren losgezischt. Mit Utensilien aus der Kinderküche, um den Regen aufzufangen.

Bordüre

Lauf mal wie ein Mensch

Wir sind eine Woche in meinem alten Kinderzimmer - nun Bücherzimmer - und verwandeln Opas Bude in den reinsten Spielplatz. Apropos. Bei einem Stadtbummel kreuzen unsere Wege die einer anderen Mama mit anderen zwei Jungs. Neugierig beobachten Mösjö Frechmaus und sein kleiner Bruder, wie der fremde Freund seiner Mutter nach hüpft. Hüpfen ist ja grundsätzlich sowieso ziemlich angesagt, als der Fritz dann einen Werbeaufsteller vor einem Schuhladen anspringt, meine ich in MFs Augen ein Gefühl von oh-cool-das-muss-ich-auch-mal-probieren zu lesen. Und die Mutter? "Was machstn du!" Sie zerrt ihn unsanft ärmlings runter. "Lauf mal wie ein normaler Mensch!"

Wie jetzt. Genau das tut er doch: er läuft wie er. Er läuft wie ein Kind. Ein Kindermensch. Ach so, das wusstest du noch gar nicht? Doch doch, auch Kinder sind Menschen. Ah so, jaja, das mit dem Hüpfen und Springen und Tanzen und Lachen ist schon ok. Ne ne, aus denen wird schon was. Mhm, genau, obwohl sie fröhlich und neugierig sind und stehen bleiben, um zu staunen. Wegen eines Regenwurms, ja, ist tatsächlich schon vorgekommen. Stimmt, wie du werden sie wohl nicht werden. Ist das ein Problem?

Bordüre

Kranke Runde

Drei Stichworte: ein Wohnzimmer, fünf Tage, drei kränkliche Menschen. Genau, zwei davon sind der vierjährige Mösjö Frechmaus und sein achtzehn Monate frischer Bruder Krümelchen. Die dritte Person bin ich. Mama. Heißt: zwei von uns dreien dürfen sich umsorgen lassen. Als Mama haste dann irgendwie die A-Karte gezogen. Und verrückt: wenn ich das so schreibe, möchte ich direkt einwenden, dass es ja aber trotzdem auch schön ist. Klar. Auf jeden Fall. Sowieso. Aber dann ist es auch furchtbar anstrengend. Als der Mensch, der mit den kleinen Fröschen zu Hause ist, gibt es kein "krank". Unser Haus ist noch weitestgehend Baustelle und so bewohnen wir momentan noch eher eine zwei Zimmerwohnung, denn ein großzügiges Eigenheim. Und mit entzündeten Kinderaugen geht's auch nicht mal eben raus in den Garten, um frischen Wind in die Sache zu bekommen. Also verbringen wir alle drei eine ganze Woche in unserem schön gemütlichen Wohnzimmer. Da heißt es auch bei den allertollsten Mäusekindern sich was einfallen zu lassen. Und die innere Stimme großzügig zu ignorieren, die dir mitunter recht penetrant ins Innenohr schrillt, dich mal ganz dringend selbst auszuruhen.

So bauen wir ziemlich coole Burgen, Flugautos, Riesenschiffe und Fantasie-Inseln aus diversen Bausteinen, bemalen so ziemlich alles, was wir finden können (leider auch die Wand neben der zu bemalenden Glastür. Eine der wenigen, die schon fertig ist... war), bepflanzen ebenfalls selbst bemalte halbierte Eierkartons mit eigens getrockneten Tomatenkernen und einem auf dem Boden gefundenen Sonnenblumenkern. Ein Überbleibsel der letzten "Vogelkamelle" Aktion. Wir kochen gemeinsam auf dem Teppich in der Küche, machen an ein paar Lieblingsplätzen Picknick, hören Musik und tanzen laut lachend. Und dann wird natürlich auch herzhaft gestritten, ausgehandelt, geweint, erzählt und versöhnt. Dann noch Bücher lesen, einmummeln und kuscheln. Und zack, sind fünf Tage um. Mit drei Menschen. In einem Wohnzimmer.

Bordüre

Botschaften

Nach einem herrlichen Sommersonnentag am See, verbringen wir die Zeit bis unser Essen serviert wird auf dem Biergarten eigenen Spielplatz. Mösjö Frechmaus erklimmt ein Spielrutschkletterhaus von allen Seiten, auch seine vierzehn Monate alte Mäuseverstärkung in Form eines frechsüßen kleinen Bruders erobert weiträumig das Gebiet. Außer uns sind noch einige wenige andere hier, so auch eine Omma mit einem vielleicht fünf Jährigen. "Hinsetzen!" faucht die Graue ihrem Enkel zu. "Erst hinsetzen! Dann rutschen!" Dass er nicht salutiert ist alles. Der ein oder andere verunsicherte Blick zur Seite, während der Knirps die lahme Rutsche runter schneckt, dann geht's wieder hoch, über eine Rampe mit dickem Tau. Die ältere Dame ist offenbar mit der Tautechnik des knirpsigen Knirpsmannes nicht ganz dacors und weist ihn höflich auf eine Alternative hin: "So nich! Was machstn jetzt wieder für Zeug! Was machstn du für Sachen!" Erfolgreich weiter eingeknickt, trabt der junge Mann Richtung Bummelrutsche, die Alte setzt während seiner Rutscherei noch einen drauf: "Und wenn de nochmal hochgehst, dann aber richtig! Und nich wieder falsch. Nich so komisch! Klar!" Klar.

Bordüre

Für's Leben stärken

Klingt gut. Sehr gut. Aber wie?

Indem ich einem Kind, das gerade mit Pauken und Trompeten von der fliegenden Schaukel geplumpst ist nur eben zurufe, es solle aufstehen und sich den Sand abklopfen?

Entwickelt man Stärke daraus, weinend an einem Ort zurück gelassen zu werden, weil es alle anderen ja schließlich auch so machen?

Bewirken Sprüche wie "heul doch nicht, du bist doch schon groß!" echtes Wachstum in einem Drei-, Vier- oder X-jährigen?

In welcher Weise dient es der kindlichen Entwicklung, Hilfe zu versagen, da man es schließlich selbst hinbekommen müsse oder eben noch zu klein sei?

Oder fühle ich mich vielleicht gefestigt, wenn ich meine Liebsten immer bei mir weiß, mit zunehmendem Alter weniger physisch denn im Herzen?

Weil sie mir, als ich ein Kind war, ihre großen, helfenden Hände angeboten haben, damit ich selbst entscheiden darf, wann ich sie annehme und wann ich alleine aufstehen, klettern und entdecken mag? 

Weil sie mich in Situationen, die für mich nicht leicht waren, nicht mit meinen Gefühlen allein gelassen haben, sondern mich begleitet haben, bis ich innerlich bereit war für das Neue?

"Ich-muss-das-alleine-schaffen" und "ich-kann-das" sind zwei so fundamental unterschiedliche innere Botschaften.

Welche hörst du, tief in dir? Und welche möchtest du in deinem Kind stärken?


Bordüre

Vergiss das mit der Kontrolle, Vertrauen ist besser

Ich frage mich manchmal, was zuerst da war. Das Vertrauen, dass Mösjö Frechmaus das schon schaukelt oder die Sicherheit, mit der MF sich einer neuen Herausforderung widmet. Es gibt da so eine schöne Sache, die heißt "Positives Formulieren". Ich kann nämlich die gleiche Situation auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen betrachten und angehen. "Uaaa! Nicht! Oh Gott! Du fällst bestimmt runter!!", wäre die eine Variante. Ein verbales Wackelbrett, das äußerst effektiv mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit genau das nach sich ziehen wird, was zur Rechtfertigung dieser These nachhaltig beitragen wird. Und was passiert wohl, wenn ich es statt dessen mal mit den Worten: "Halte dich gut fest!" oder "Schau gut hin, wo du hintrittst!" oder Ähnlichem versuche? Unser Gehirn ist so komplex wie schlicht. Die Bilder, die ich kreiere, wirken sich auf meinen gesamten Organismus aus. Bei MF funktioniert das dann so: Möchte er etwas Neues und Aufregendes wagen, fragt er mich manchmal, ob er sich wohl wehtun wird: "Aua macht?". "Das weiß ich nicht. Manchmal weiß man erst, ob man sich wehtut, wenn man es probiert hat.", ist die einzig ehrliche Antwort, die ich ihm hierauf geben kann. "Ich glaube aber, wenn es sich für dich gut und richtig anfühlt, dann wirst du dir auch nicht dolle weh tun.". Dann steht er da und überlegt. Er konzentriert sich, schaut sich die Lage aus verschiedenen Perspektiven an. Dann entscheidet er. Er entscheidet, ob er meine Hand braucht. Oder ob er es dieses Mal nicht probieren möchte. Oft springt er. Wofür er sich entscheidet ist nicht wichtig. Aber dass nur er der ist, der in sich reinhören kann, dass nur er sich wirklich ganz und gar einschätzen kann, das ist wichtig. Vielleicht das Wichtigste überhaupt. Und das Schöne ist, dass man auch sich selbst dieses Vertrauen entgegenbringen kann. Man kann es lernen. Und stellt vielleicht fest, dass man ganz genau weiß, was man braucht, was man tun möchte. Und was nicht. Und man stellt vielleicht fest, dass die Stimmen, die einem all die Jahre etwas anderes zugeschrien haben, auf einmal den Mund halten.

Und du? Was sagen deine Stimmen dir?

Bordüre

Nachtisch

Es ist alleroberste Schlafenszeit und die gesamte Mannschaft hat sich bereits in der Kuschelkoje eingefunden. Vom Tag berichten und mäuseschönen Quatsch machen ist sowas von erledigt, die drei obligatorischen Geschichten wurden vorgetragen, Zähnchen sind geputzt, unser großer Lieblingsmensch namens Papa singt (noch) frohen Mutes vom fleißigen Bauern im Märzen, von Vöglein, die schon alle da sind und Häschen, die nicht mehr hüpfen können. Das Sandmännchen steht also quasi in den Startlöchern. Da hat es die Rechnung aber ohne Mösjö Frechmaus gemacht. Ufjeruppt wie noch was, schafft er es, im Liegen irgendwie zu hüpfen, wälzt sich, fummelt an der Sternchen projizierenden Schildkröte rum und stellt schließlich entrüstet fest, dass wir keinen Nachtisch hatten. "Wir haben schon Zähne geputzt und heute gibt's keinen Nachtisch! ...er setzt seine Felder und Wiesen -" "Aber!" "Nix aber! ...in Stand. Er mäht das Getreide, dann drischt er -" "Ich will aber noch Nachtisch!" "Das hab ich gehört, aber heute gibt's jetzt keinen Nachtisch mehr." Der Große holt tapfer Luft für den nächsten Vers, der Kleene ist schneller: "Ich will doch nur EINEN Schokokeks!" "...es aus. Im Winter, da -" "Paaapaaaaaaaa!!" "...gibt es manch fröhlichen -" "Scho-ko-keks!" Ein lautes Schnaufen ertönt vom anderen Ende des Familienbettes. Nachdem ich erst vor einigen Tagen einen üblen Lachanfall hatte, während Herr Papa mit unserer kleinen großen Frechrübe um die Wette diskutieren durfte - Schlafmangel führt ab einem gewissen Pegel zu einer ganz fiesen Ferienlagerstimmung. Bei mir. Mein Liebster pennt in solchen Fällen einfach beim Singen ein - gebe ich nun alles, um den Ernst der Lage adäquat zu erfassen. Unterdessen rollt mein gerade einschlafender Babymann verträumt halb über mich und probiert, wie sich sein Schnulli anfühlt, wenn er ihn mal andersrum trägt. Ein Blick auf den nach außen gekehrten Silikonnöppel stellt meine Ernsthaftigkeit auf eine harte Probe. "Wir haben schon Zähne geputzt und jetzt gibt's nix mehr!" "Aber mir macht es nichts, wenn wir gleich nochmal Zähne putzen." "ABER UNS" Hm, manchmal hat MF einfach nochmal Hunger kurz vor dem Schlafen. "Hast du noch Hunger? Dann machen wir dir noch ein Brot." "Ja! Mit Schokolade drauf!"

Bordüre

Wir brechen

Mösjö Frechmaus schnurrt neben mir wie ein zweijähriges Kätzchen, Krümelchen wächst seit nunmehr fünf Monaten fröhlich in meinem Bauch heran. Apropos. Da grummelt es sehr unschön. Ich versuche, das Unaufhaltsame zu ignorieren und weiterzuschlafen. Dieses gewisse Beben des Kinns, das ich vor langer Zeit zuletzt hatte, damals aus einem recht feuchtfröhlichen Anlass, verheißt nichts Gutes. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig auf's bis dahin stille Örtchen. An allen Fronten gleichzeitig wird der feindliche Bazillus Kakuskotzus bekämpft und so schnappe ich mir für obenrum das nächstbeste im Sitzen Erreichbare.  Meine bereits recht ansehnliche Murmel macht das Ganze durchaus interessanter.

Zeitgleich höre ich meinen Herrn Mäusefrosch im Schlafzimmer ähnliche Tätigkeiten verrichten. Es ist mal wieder nicht nur schön, sondern auch äußerst praktisch, dass wir alle in einem großen Bett schlafen. So verpasst unser großer Lieblingsmensch nicht den Moment, da Tücher gereicht und kleine Rücken gestreichelt werden wollen. Als der kleine Mann wieder schläft, kommt der große Mann zu mir. Dass er den Lachanfall mühsam runterschluckt, rechne ich ihm ob des armseligen Bildes, dass sich ihm zu dieser mitternächtlichen Stunde auf unserem Kloset bietet, hoch an. Auf dem Schiethaus thronend, halte ich das quietsch rote Töpfchen mit Lenkrad in zittrigen Händen. Meinen Kopf auf der dicken, roten Hupe. Einfühlsam streichelt mir mein Oberspatz den Rücken und besteht darauf, die grüne Brühe - des Abends gab es Mangold. So schnell nicht wieder - höchstselbst zu entsorgen.

Bis zum Morgen, werden MF und ich immer absolut zeitgleich brechen. Faszinierend. Als hätte der Bazillus oder Virus einen eigenen Rhythmus. Man sagt doch auch, "den Rhythmus im Blut". Daher kommt das.

Während der kleine, starke Kinderkörper am nächsten Tag wieder hüpfbereit ist, lungere ich noch bis zum Abend auf der des nachts mühselig herbei geschleppten, viel zu kleinen Kindermatratze herum. In bester Lage vor der alten Kloschüssel. Dass mir der hartnäckige Urinsteinodem in diesen Stunden des blanken Überlebens nichts anhaben kann, lässt tief blicken. Meine Füße auf den Fliesen, den Kopf an der Heizung. Mein GL, wann immer es Herr Hüpfmaus zulässt, an meiner Seite, um mich zu betüddeln.

Als dieser dann am nächsten Tag ähnlich trostlos die Toilette besprüht, möchte auch ich ihn sanft rücklings tätscheln. Ein ersticktes "RAAUS!" ist alles, was ich verstehe, bevor ihn der nächste Schwall übermannt.

Bordüre

Ich wär' dann mal da

Auf einmal liegt da ein neuer kleiner Mensch auf unserem Sofa. Einfach so. Mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er am Abend vorher akribisch sein Handtuch hier ausgebreitet. Der Hammer. Während ich das mental bei Mösjö Frechmaus kaum greifen konnte, haut mich diese Feststellung nicht mehr ganz und gar um, als nun auch Krümelchen seinen Platz markiert. Es ist mehr eine Erinnerung an mein stammelndes Staunen. Und dennoch ergreift mich wieder ein Gefühl schierer Fassungslosigkeit ob der Gelassenheit, mit der diese winzigen Mäuse ihren Platz in unserer Welt einnehmen. Frei nach dem Motto: "Ich wär' dann mal da".

Und wenn ich mir dann überlege, wie wir als Erwachsene versuchen, diesen Platz wiederzufinden, dann frage ich mich: was ist da nur unterwegs passiert?

Wann hast du deinen Kompass verloren? Und wer hat dir denn eingeredet, du hättest diesen nicht felsenfest in dir verankert!

Wirf ein wenig von dem Ballast ab, der dich so blockiert. Schmeiß den ganzen Krempel raus. Du wirst das Spannendste darunter finden, das ich mir vorstellen kann: dich.

Bordüre

Schalter umlegen, bitte

An diesem Morgen erledige ich einige Dinge, die ich nun schon seit Tagen bis Wochen vor mir herschiebe. Seit unsere Tagesmutter ausgefallen ist, bei der Mösjö Frechmaus an zwei Tagen in der Woche ein paar Stunden verbringt, liegen die meisten meiner Projekte brach. In den allermeisten Momenten ist das mehr als ok und wir haben eine wunderbare Zeit zusammen. Aber jetzt, wo ich tatsächlich und unbedingt einiges für mich erledigen möchte, da bekommen wir ein Problem. Was sonst in Ordnung ist, nervt mich nun. So langsam kolossal. Gefühlt braucht mein Spatzenmann andauernd irgendetwas. Will mir etwas zeigen, fordert mich auf, irgendwohin mitzukommen, hat Durst, dann Hunger, eine Wurst donnert in die Windel und verströmt ihren betörenden Duft, als nächstes muss er mich ganz dringend etwas fragen, findet ein Büchlein, das er mit mir gemeinsam ansehen möchte. Es nimmt kein Ende. Scheibchenweise ziehe ich mein sehr überschaubares Progrämmchen durch. Nichts kann ich in Ruhe am Stück machen. Mein Geduldsfaden wird enormstens auf die Probe gestellt. Ich reagiere viel schärfer auf MF, als er es sonst von mir kennt. Meine Antworten werden zunehmend knapper, in meine Stimme mischt sich mehr und mehr ein genervter Unterton. Je abweisender ich werde, desto steiler sinkt die Chance, dass mein Mäusezahn sich wie sonst eine Weile allein beschäftigt. So stacheln wir uns schön unschön gegenseitig auf. Ich gebe mir allergrößte Mühe immer wieder ehrlich auf ihn einzugehen. Es reicht nicht.

Wir bleiben beide auf der Strecke. Ich, weil ich meine Sachen nicht so machen kann, wie es mir gerade gut tun würde. Und dieser kleine Mensch, weil ich unerklärlicherweise so komisch zu ihm bin obwohl er doch nichts anderes macht als sonst. Er ist doch einfach nur da. Er hat doch nur tausend Fragen. Und eine Millionen Ideen. Und so viel Energie. Und alles, was er von mir verlangt, ist, dass ich ihn begleite. Richtig begleite. Nur so daneben hocken und fadenscheinige Teilhabe heucheln is' nich'.

Klar. Oder bist du etwa nicht enttäuscht, wenn dein Gegenüber dir nicht wirklich zuhört? Macht es dich nicht traurig, wenn dir ein Freund oder deine Freundin das Gefühl gibt, dass du gerade total nervst? Ist ein scheiß Gefühl, oder?

Du bist groß. Du hast die Wahl. Du kannst aufstehen und gehen. Aber dieser kleine Mensch hier vor mir? Der kann noch nicht wählen. Sein Leben hängt davon ab, bei seiner Mama zu sein. Das ist groß. Das ist das Größte.

Als ich das kapiere, lege ich bewusst einen Schalter um. Verschiebe alles, was ich noch nicht erledigen konnte auf irgendwann. Vielleicht klappt es ja schon in einem Weilchen. Weil ich jetzt wieder das mache, was wirklich wichtig ist: ich erforsche gemeinsam mit meinem kleinen Menschenkind die Welt.

Um ehrlich zu sein, fällt mir das an diesem Morgen ganz und gar nicht leicht und ich muss mich immer wieder darum bemühen. Immer wieder werde ich den Schalter umlegen.

MF wird es mir danken, indem er einfach das macht, was er machen möchte. Voller Begeisterung und Lebensfreude. Weil ich aufrichtig bei ihm bin.

Bordüre

Das kommt davon

Ein kleiner Mensch rennt genau nicht in die von Mutti intendierte Richtung. Eigener Kopf und so. Mutti ruft ihrem etwa zweijährigen Knirps ein lapidares "Tschüss, ich geh dann und lass dich hier!" zu und sieht im nächsten Moment den Rezipienten stolpern. Er fällt so unglücklich auf seine kleinen Hände, dass sie den Aufprall zwischen Stirn und Asphalt nicht mildern können. Er weint. Das hat weh getan. Und doof ist es sowieso immer, wenn was nicht so klappt wie man will. Seine Mama kommt, ein Glück. Oder? Sie nimmt ihn hoch, ein süffisantes Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie fragt ihn, ob sie pusten soll. Das Menschlein verneint. Sie pustet. Er wehrt sich, hat ja schließlich laut und deutlich "nein!" gesagt gehabt. Der nächste Frust ist somit vorprogrammiert. Als er noch immer nicht zu weinen aufhört, erinnert sich Mutti möglicherweise an einen Spruch, der ihr selbst in solchen Situationen gerne aufgenötigt wurde: "Das kommt davon! Das kommt davon, wenn du nicht zu mir kommst!". Manchmal merkt man ja erst beim Aussprechen, wie Banane das Gesagte eigentlich ist. In diesem Fall überspringt die entsprechende Reflexion leider auch diese Generation. Du verstehst nicht? Probieren wir es so:

Deine allerbeste Freundin ist zu Besuch bei dir. Du hast sie gebeten unbedingt und ganz schnell zu kommen, du brauchst jetzt genau sie. Bist mal wieder durch eine Prüfung gerasselt. Oder dein Freund hat sich von dir getrennt. Vielleicht hast du dir auch kurz vor dem Skiurlaub ein Bein gebrochen. Unter Tränen berichtest du deiner vermeintlichen Seelenverwandten von deinem Kummer. Gebannt erwartest du ihre tröstenden Worte, hoffst wie selbstverständlich auf ihr Verständnis und ihre Zuwendung. Sie bleibt ganz cool, lächelt sie nicht sogar? Die erste Irritation schiebst du beiseite, schließlich brauchst du sie gerade so sehr. Da platzt es aus ihr heraus: "Ey, sorry, aber das kommt davon, wenn du...". Den Rest hörst du schon nicht mehr wirklich. Dein Herz, das gerade noch auf Empfang war, hat so eben zu gemacht und mit ihm deine Antennen. Sicher ist sicher.


Bordüre

Schöne neue Welt

Wir fahren mit dem Fahrrad durch die Dünen einer klitzekleinen Nordseeinsel. Mit einer unwahrscheinlichen Schönheit begrüßt uns jeder weitere sanfte Hügel. So viel gibt es in dieser mir bislang völlig unbekannten Umgebung zu staunen, so viel zu gucken. Noch nie Gesehenes und Gerochenes zieht meine Aufmerksamkeit mal hierhin und mal dorthin, dazu die salzig-kalte Seeluft auf der Zunge. Wie ich hier so fahre und gierig Eindruck um Eindruck aufsauge, verstehe ich auf einmal, wie es uns als Kinder gegangen sein muss, als wir hier angekommen sind. Eine ganze Welt zu entdecken! Wie unglaublich. Welch eine Aufgabe!

Wenn ich mir nun vorstelle, ich würde also in dieser mir unbekannten wunderbaren neuen Umgebung zum allerersten Mal umherflitzen. Zum allerersten Mal die Fasane durch die luftigen Dünen gleiten sehen, erst hier und jetzt erleben, dass Dünen auch mit Gräsern bewachsen sein können, hätte noch nie zuvor bestaunt, wie strahlend ein Pfad aus aber- und abertausend weißen Muscheln blendet. Mein Blick unendlich offen, alle Sinne auf Empfang.

Und dann reißt du mich raus. Dann zerrst du an mir, willst, dass ich aufhöre so zu trödeln, denn schließlich kennst du den Weg ja schon. Zumindest den, den du immer gehst. Und auf genau diesen Pfad hast du vor auch mich zu bringen. Entdecke ich etwas, das dir schon lange nicht mehr aufgefallen ist, ziehst du mich weiter, kannst dich nicht darauf einlassen, mit mir gemeinsam deine Welt wieder neu zu entdecken. Du willst nur sehen, was du siehst. Nehme ich voller Vorfreude auf das Unbekannte eine Abzweigung, die du noch nie zuvor gezeigt bekommen hast, bekommst du Gänsehaut und lenkst mich schnell zurück auf deine Spuren. Ich habe keine Chance, diese wunderbare Welt für mich zu entdecken. Am besten, ich schließe die Kanäle meiner Sinne auf ein Maß, das es mir erträglich macht, so viel auszublenden.

So trotte ich irgendwann in deinem Schatten. Vor uns eine endlos lange Schlange von Ahnungslosen, die genau den selben Weg gehen. Aber manchmal, im Verborgenen, da linse ich heimlich zur Seite. Und eines Tages werde ich ausbüxen. Einfach so. Wenn meine Zeit gekommen ist, werde ich meinen Weg gehen. Querfeldein!

Bordüre

Frisst du noch oder schmeckst du schon

Mösjö Frechmaus hat Verstärkung bekommen. Krümelchen ist oberzarte drei Monate alt, interessiert sich aber bereits seit geraumer Zeit brennendst für alles, was wir uns so in die Futterluken kippen. Als MF und ich uns auf dem neuen Sofa - selbstverständlich mit Picknickdecke! Das schmucke Teil soll ja zumindest mal ein Weilchen die Ursprungsfarbe zeigen - ein Breigläschen teilen (eigentlich war es meins. Aber ich durfte probieren), verfolgt Krümelchen so gierig den Weg des Löffels, dass er einen mäusekleinen Hauch serviert bekommt. Dieses Breiparfum auf den klitzekleinen Lippen, sitzt dieser noch so winzige Mensch da. Ganz aufmerksam leckt er sich die Schnute, lässt sich das musige Etwas im wahrsten Sinne des Wortes auf der Zunge zergehen. Dann ein kurzes Lächeln. Und wieder ganz und gar schmeckend. Das pure Erleben. Reinste Entdeckung. Und ich darf dabei sein. Darf dieses die-Welt-erkunden noch einmal begleiten. Welch ein Geschenk!

Diesen bisher unbekannten Geschmack verarbeitend, sucht mein Krümelchen Halt. Mamamilch, die Art, wie ich ihn dabei in meinen Armen halte, der enge Körperkontakt, all das kennt und nutzt er. Hierüber kann er sich regulieren. Und ich? Ich sitze abends auf eben diesem Sofa und futtere missglückt-experimentierten Kuchen der ursprünglich Kekse werden wollte in mich hinein und frage mich auf einmal, wieso eigentlich. Merke ich überhaupt, wenn ich etwas esse? Und was? Schmeckt mir das denn eigentlich gerade oder ist es halt da?

Unsere Kinder können uns lehren, wieder wach zu sein. Uns zu zentrieren. Uns auf eine Sache ganz und gar zu konzentrieren.

Wann hast du zuletzt wirklich geschmeckt, was du schmeckst?

Bordüre

Probier's doch mal aus

Mit einer inneren Liste namens "Möhren, Bananen und Milch" und einem unwesentlich pralleren Einkaufswagen ausgestattet, bewegen Mösjö Frechmaus und ich uns durch die Gänge eines Supermarktes. Mümmelnd tapert dieser kleine Mensch mit seinem Baguette - fast so groß wie er selbst - vor und neben mir her, um sich die Regale genauer zu besehen. Gemeinsam einkaufen ist in achtundneunzig Prozent der Fälle unheimlich entspannt und schön. Die zwei Prozent, in denen MF hundemüde oder einfach nur olwer übellaunig unterwegs ist, sind dafür dann umso schweißtreibender. Produktdesigner und Supermarktregaleinräumer sind ein klasse Team und so unterbricht mein Herr Kinderfrosch seinen Bummel vor dem Kühlregal. Fruchtzwerge werden gewünscht. Klar. Schön bunt und mit lustigen Gesichtern, genau auf Kinderaugenhöhe. Ich erkläre ihm, dass ich dieses Joghurt nicht kaufen möchte, er sich aber gerne ein anderes aussuchen darf, bei dem ich ein besseres Gefühl habe. Da er weder müde noch übellaunig ist, klappt das einwandfrei. Als nächstes sucht er sich noch eine Wurst aus und da er mit meiner Käsewahl nicht einverstanden ist, auch noch einen Käse. Kiwis wurden direkt am Eingang auf Kinderwunsch hin eingeladen, drei, so viele sollten es laut meinem Chefeinkäufer sein. Als wir auf dem Weg zur Kasse an einem Regal voller Quetschobst vorbeikommen, sucht er sich auch hier eines aus und legt es begeistert zu all den anderen leckeren Sachen in seinen kleinen Wagen. Da entfleucht mir ein: "Hey, du durftest dir aber viel aussuchen!" Und dann überlege ich nochmal eben. Ja, klar, er durfte sich einiges aussuchen. Aber unser Wagen ist weit üppiger bestückt mit Dingen, die ich ausgesucht habe. Wie großzügig ist es denn mal wirklich, dass mein Kind in die Wahl der Obstsorte, des Joghurts, der Wurst und des Käses involviert war? Ach so, das Quetschobst noch, ja. Aber wie häufig landet im wagen Schnabulierkram, an dem ich nicht vorbei gekommen bin? Die wirklich letzte Schokolade hier, eine kleine Packung Chips dort. Und wie blöd und eingesperrt fühlt es sich an, sich all das rigoros zu verbieten? Weil man ja ach so vernünftig ist. Weil man sein Kind so was von unter der Fuchtel hat. Ist doch Käse.

Probier's doch mal aus! Lass dein Kind hier und da mitentscheiden und schau, was passiert...

Bordüre

Im Grunde ganz einfach

Mösjö Frechmaus ist seit acht Wochen und einem Tag ein großer Bruder. Wo es seit nunmehr drei Jahren viele Stunden am Tag - und in der Nacht - nur uns beide gab, ist auf einmal also noch ein kleines Wesen an unserer Seite. Wie mein großer Kleiner ein Kuschler wie er im Buche steht. Auf einmal liebe ich zwei Kinder wie verrückt. Und obgleich Liebe nicht teilbar ist, sondern auf wundersame Weise immer mehr werden kann, spüre ich eine Veränderung zwischen meinem Frechfrosch und mir. Registriere, dass er deutlich an seinen Papa, unseren großen Lieblingsmenschen, heranrückt. Mich manches Mal beiseite schubst. Das trifft mich. Sehr. Und dann frage ich mich, ob es das nicht auch vorher bereits gegeben hat. Wenn der GL verfügbar ist, wurde schon sehr lange die Gelegenheit genutzt, den Papa-Tank aufzufüllen, der so schnell austrocknet, in einer geschäftigen Arbeitswoche. Und klar zu formulieren, wen er wann wie braucht, hat MF früh lernen dürfen. Also eigentlich doch alles wie immer? Nein, denn ich fühle mich doch auf einmal mies, meine Reißleine ist so viel kürzer, nehme so Vieles persönlich, bin direkt getroffen. Sind wir zu dritt unterwegs - MF, sein Brüderchen und ich, überlege ich erstmal, ob ich mit einem Einfall MFs einverstanden bin oder nicht. Überlege nur noch mit dem Kopf. Lasse so viel weniger impulsive Leichtigkeit zu. Jaaaa! Ist doch wohl klar! Kann man da sagen. Hast ja jetze auch zwei an der Backe. Aber wenn das so klar ist, wieso ist mein Gefühl dann so gar nicht mit diesem Zustand einverstanden! Verwundert - nein, erschrocken, nehme ich meine veränderte innere Haltung meinem großen Frischling gegenüber wahr. Ich werde traurig. Abschied. Abschied von einer gemeinsamen, zauberschönen Reise. Oder?

Es arbeitet. Ich leide und es arbeitet. Dann der Durchbruch. Und es ist mal wieder so simpel: der Ursprung bin ich. Nicht mein Herr Maus, nicht seine Verstärkung in Form eines mini Menschleins. Nur ich. Auf einmal liebe ich noch ein Kind wie verrückt. Es fühlt sich an, als würde ich MF betrügen. Und es zerreißt mich. Ich suche in den Augen meines Kindes nach unserer alten Verbundenheit. Bürde ihm also auf, diese aufrecht zu erhalten. Doch wenn ich schon so durch den Wind bin, wie mag es meinem Dreijährigen gehen, der nun nicht mehr das einzige Lachfröschle im Haus ist? Nicht er kann unser Band felsenfest aufrecht erhalten. Ich bin die Mama. Das ist meine Aufgabe. Diese große Unsicherheit, ob mein Kind mich noch liebt, war die pure Projektion. Liebe ich mein Kind denn wirklich noch so sehr? Liebe ich dieses Baby nicht viel mehr? Dieses reine Wesen, mit diesem zuckersüßen kleinen Hinterkopf und den entzückendsten Speckbeinchen, die ich mir vorstellen kann? Nein! Und ja, es ist auch anders. Ich liebe beide auf eine ganz eigene, nur ihnen gehörende Weise. Bis ich das mal verstanden habe!

Das schönste Geschenk für diese innere Arbeit ist, dass seit meiner Einsicht mein geliebter Frechfrosch wieder mit mir einschlafen möchte, mit mir in Pfützen sitzen mag und mich bei allem um Rat und Aufmerksamkeit bittet. Und die Gewissheit, dass Liebe nicht teilbar ist. Wandelbar. Aber nicht teilbar.

Bordüre

Darf ich

Zum Abendessen gibt's Nudelauflauf. Obwohl Mösjö Frechmaus noch beim gemeinsamen Tischdecken groß angekündigt hatte, er möge heute das "Frühstück", boykottiert er es dann spontan doch mit den klaren Worten: "Ich mage nicht das essen!" Ein Quetschobst wird stattdessen gewünscht. Ham wa nich. Hm. Im Speiseschrank findet sich noch ein Gläschen mit Apfel-Blaubeere-Brei, eigentlich meiner, aber Teilen ist keine Einbahnstraße. Zurück am Tisch, frage ich meinen kleinen Menschen, ob ich einmal mit dem Finger rein dürfe. Das Strahlen, das sich hierauf über sein kleines Gesichtchen ergießt, ist zauberschön. Und mir wird schlagartig klar, dass Momente wie dieser unheimlich kostbar sind. Wie oft stellt MF mir diese bescheidene Frage. Wie oft bin ich es dann, die darüber entscheidet. Und nun ist er allein es, der sich eine Antwort für mich überlegen darf. Wir sind ebenbürtig. Absolut gleichwertig. Und in unseren Rollen so verschieden. Mein Mäusemann hat die große Aufgabe, jeden Tag zu wachsen. Und ich darf sein Nährboden sein.

Übrigens bekam ich als Antwort: "Nein, Mama. Nur mit dem Löffel!"

Bordüre

Du siehst aus wie ein Mädchen

Wir holen, gemeinsam mit der dazugehörigen Mama und dem kleinen Bruder, einen Freund im Kindergarten ab. Die Begrüßung ist herrlich stürmisch, dieses Treffen, dieser Tag wird zauberschön werden. Während der kleine große Max in mehreren Anläufen geschickt seine Schuhe anzieht, werden wir Zeugen einer Szene, die mich nach einer dicken, fetten Kotztüte bitten lassen möchte. "Mensch, Timo, warst du beim Friseur?! Du siehst jetzt ja richtig schick aus!" Timo, Max' kleiner Bruder wurde von Papa geschoren und trägt die Haare nun etwas kürzer. "Und du?", die Erzieherin hält ungefragt Max' Haare zwischen ihren Fingern hoch. "Du siehst aus wie ein Mädchen. Sollen wir dir mal ein paar Spängchen reinmachen?", stichelt die theoretisch Erwachsene ohne Rücksicht auf Verluste auf den kleinen, ungeschützten Menschen los. Bitte was? Und hier verbringt dieses Kind seine Vormittage? Und wenn er gerne mit dem rosa Glitzerstift malt, wird das dann auch derart alttestamentarisch kommentiert? "Der Murat steht auf rosa, der Murat steht auf rosa, nänä nänä nänäää" Wie wär's mit einem Pranger, an den Kinder gebunden werden, die sich nach persönlicher Meinung der Erzieher nicht richtig verhalten? Am besten werden vor jeder Einrichtung Schablonen aufgestellt und jeder, der da nicht rein passt, geht mal lieber auf direktem Wege nach Hause und schämt sich. Ob's für derartige Verstöße auch nen Ablass gibt? Direkt mal eben googeln...

Bordüre

Los, weiter

Nach der Spielgruppe hole ich Mösjö Frechmaus wie gewohnt ab. Meiner Wahrnehmung nach nur allzu gemächlich, trotten wir die Treppe zum Hof hinunter. Bei allem, was es für Herrn Frosch unterwegs zu staunen und beobachten gibt, dürfte es sich für ihn nach Warpgeschwindigkeit anfühlen. Da kommt es jäh zum Stau, der kleine Mensch vor uns bleibt frecherweise einfach so mitten auf der Treppe stehen. Wo gibt's denn so was! Obwohl, einfach so? Nee, der kleine Mann hat sich mit seinem Handschuh, der unterirdisch in seiner mini Bomberjacke vergraben ist, um an der anderen Patschhand ebenso herauszubaumeln, im Geländer verheddert. Instinktiv weiß er, dass er nun nicht weiterkommt. Der Instinkt der Mutter scheint ein anderer zu sein: "Los! Komm, weiter!", ihre Stimme mehr ein schrilles Piepsen, denn ein menschlicher Laut. Wie selbstverständlich unterstellt sie Mutwillen. In Gedanken verfasst sie bereits ein Bürgerbegehren: "Freiheitsentzug für kindliches Staunen - ich bin dafür". Dass es sich hier jedoch um ein Verheddernis handelt, fällt ihr in ihrem mutterösen Wahn gar nicht auf. Ich entwirre die Wolle und ernte dafür einen interessierten Blick des jungen Jungen. Seine Frau Mama, die Aufmerksamkeit in Person, quittiert dies mit meerschweinchenähnlicher Quietschstimme: "Nicht träumen! Schau nach vorne auf der Treppe! Und weiter jetzt, los!" Oha.

Bordüre

Ruhig gestellt

Im Restaurant eines einschlägigen Einrichtungshauses gibt's 'ne neue Kinderecke. Wo sich sonst Berge von Kuscheltiere zwischen Holzkurbeln versammelt haben, blinken nun drei fette Displays. Ist doch super. So liegen die Tierchen nicht alle im Weg herum und die Kleenen hocken schön leise vor den Flimmerkisten und kreischen und toben nicht so nervtötend. Eine Minimaus von etwa anderthalb Jahren sitzt wie eingefroren vor einer eben solchen Kiste. Die routinierte Geschmeidigkeit, mit der ihre zarten Fingerchen die virtuellen Puzzleteile über das Touchscreen schieben, ist gruselig. Ein Blick auf die Mutter, die direkt neben uns denniert, lässt erahnen, woher diese Gruselskills wohl kommen mögen: mit ihrem Schlauphone fest verwachsen, interessiert sie sich scheinbar nicht im Geringsten dafür, was ihr Nachwuchs so treibt. Hauptsache gut geparkt. Als ihre kleine Menschin sie besuchen kommt, schaut die Mutter nicht einmal auf. Schiebt ihr nur eben die kalten Lummelpommes mit Ketchup rüber und hackt eifrig weiter auf ihren Plastikfreund ein. Erst, als das kleine Mädchen sich neugierig zum Telefon beugt, um zu sehen, was es da so gibt, wird ihr ein Schmatz aufgedrückt. Den Blick selbstverständlich starr auf das Display gehaftet.

Ich frage mich, ob dieser Dame bewusst ist, welches unbeschreibliche Glück sie hat, Mama sein zu dürfen. Und weiß sie, dass ihre Kinder nicht ewig Kinder bleiben werden? Wie kostbar diese gemeinsame Zeit ist? Und wie nichtig so ein sch... Bimmeldings?

Aber das ist nur meine Meinung.

Bordüre

Ein ganz normaler Nachmittag

Mösjö Frechmaus ruft mich. Kaum aus seinem Mittagsschläfchen erwacht, möchte er direkt ein Teil des aktuellen Geschehens sein. Bis ich weggelegt habe, was ich eben gerade gemütlich getan habe und ins Schlafzimmer gehuscht bin, erwartet mich Herr Mäusekönig bereits freudestrahlend mitten im Pumakäfig und auf dem Weg zu mir. Als Stärkung, für alles, was noch so kommen mag, futtert MF ein paar Bissen Brot und löffelt ein Glas Erdbeermarmelade zu einem guten Viertel aus. Wollte er noch vor kurzem partout niemals nackig sein, besteht er nun darauf, ohne Windel rumzuspazieren. Das T-Shirt muss wenig später ebenfalls dran glauben. Es ist ein schwülwarmer Sommertag und zwischen zwei Hitzegewittern richten wir uns auf der Terrasse häuslich ein. Ebenfalls neu ist, dass Mösjö Maus sein Kinderklo öfter mal austestet. Zum Einschlafen musste es ebenso schon einmal mit im Bett liegen, wie sein grüner Playmo-Traktor und ein bunter Kinderlöffel. Irgendwann, zwischen unzähligen Handwerkerleistungen an seiner mit Wasser gefüllten Babybadewanne und den zu vielen Pflanzen hier draußen, ertönt ein freudiges "Pipi!" zwischen den Blümchen und ein kleiner Mensch pieselt munter drauf los. Ich flitze und schiebe ihm sein Kloset unter den Allerwertesten und tatsächlich landet die nächste Runde in eben diesem. Welch eine Premiere! Begeistert betrachten wir gemeinsam das blassgelbe Werk und verabschieden es dann mit Glanz und Gloria im großen Örtchen.

Das nächste Highlight dieses ganz normalen Nachmittags ereignet sich nur wenig später. Wir hantieren mit ein paar oberfetzigen Aufklebern, die MF sich ausgesucht hat und nun auf alles klebt, was nicht Niet- und Nagelfest ist. Der große Renner sind ein großes und ein kleines Glitzerkrokodil. Diese klebt uns Herr Frosch auf die Nase, freut sich und sagt: "Piegel!". Ok. Also auf zum Spiegel. Da sitzen wir dann. Mit unseren Glitzerkrokodilen auf der Nase, er nackig, und freuen uns 'nen Ast.

Bordüre

Böses Kind

Sommer und Biergarten - das passt, wie Arsch auf Eimer. Obwohl es bereits stramm auf neunzehn Uhr zugeht, möchte man am liebsten noch nackig durch die heiße Luft sausen. Eine witzige Vorstellung eigentlich. Ein Nudisten Biergarten. "Biergarten zur schlaffen Haut" oder "Freisitz mit Ausblick". Ein bisschen was haben wir prüderweise aber doch an und während Omi und Opa einen kleinen Schnack genießen, sitzen Mösjö Frechmaus und ich barfuß im Sand des Biergartens eigenen Spielplatzes. Dieses Mal haben wir daran gedacht, Sandelkram mitzunehmen und ein anderer Junge untersucht gerade neugierig MFs bunten Bagger mit der großen Schaufel. Die beiden nehmen etwas zögerlich nonverbalen Kontakt auf, als die Mutter des Kleinen kommt, tun wir ein wenig wortreicher das Selbe. Da passiert es. Eine kleine Ladung Sand trifft MF. Blöd, aber keine große Sache. Wie soeben der andere Frechfrosch, so hat MF erst heute Nachmittag die Omi im Übereifer besandet.

Was dann geschieht, bringt mich beinah zum Weinen. Die Mutter springt auf, haut ihren Sohn, redet auf ihn ein, dass das nicht ginge, haut ihn wieder, keift ihm zu, er solle Entschuldigung sagen, lässt ihm dafür keine Zeit, haut ihn statt dessen ein weiteres Mal und sagt ihm, er sei böse und er solle nur mal gucken, wie lieb das andere Kind sei. Meine Versuche, ihr zu versichern, es sei nicht so schlimm, wie es sich gerade für sie anfühlt, verlaufen sprichwörtlich im Sande. Selbst, als ich ihr leise sage, sie bräuchte keine Angst haben, dringe ich nicht zu ihr durch. Diese greifbare übergroße Angst der Großen, etwas falsch gemacht zu haben und ihre so verzweifelt laute Projektion auf ihre kleine Maus, löst bei mir derart stark das Bedürfnis aus, hier etwas auszugleichen, diesen beiden Mäusen für einen Moment das Gefühl zu geben, völlig ok zu sein, dass ich mich bewusst bemühen muss, MF darüber nicht zu vergessen. Also wende ich mich ihm zu, um ihn zu fragen, ob alles ok sei. In seinen die beiden sehenden Augen erkenne ich mein Gefühl. Noch einmal richte ich ein "es ist ok" an die Frau und ihr Kind. Der Kleine fängt an zu weinen. Die Große beherrscht sich. Lenkt das übermächtige Gefühl um, wie sie es schon seit so langer Zeit tut. Und zerrt ihren Sohn aus dem Sand und davon. Nur weg von hier.

Isolation ist leichter als das Aushalten und das Hinsehen. Oder?

Bordüre

Nochmal in höflich, bitte

Wenn eine Oma vor deinen Augen stolpert und neben ihrem Rollator auf den Asphalt plumpst, hilfst du ihr dann hoch? Ok, das ist ja schon mal ein Anfang. Im Supermarkt fällt jemandem der halbe Einkauf vom Arm. Gehts du hin und erhebst den Zeigefinger: "Selbst schuld. Hättest ja einen Wagen nehmen können" und gehst weiter? Hoffentlich nicht. Auf dem Weg nach Hause schaust du statt nach vorne auf dein Handy und rutschst auf einer gefrorenen Pfütze aus. Alle gehen an dir vorbei, als es dir schwer fällt, mit deinen rutschigen Sohlen genug Halt zu finden, um aufzustehen. Eine meint, du solltest dich nicht so anstellen. Ein anderer haut dir ein "hör bloß auf mit dem Theater" zu. Da, auf einmal, wird dir eine offene Hand gereicht. Ein schönes Gefühl.

Und wenn ein Kind hinfällt? Wie oft hast du schon mitbekommen, dass es da liegen gelassen wird? Dass die Hilfesuchende Kinderhand nicht nur ignoriert, sondern bewusst zum Sinken gebracht wird: "Na los, steh auf!" Warum? Wie soll ein Kind lernen, hilfsbereit seinen Mitmenschen gegenüber zu sein, wenn es diese Haltung selbst nie erfahren hat? Wenn die Botschaft Nummer eins offenbar ist, man müsse es alleine schaffen, um kein Weichei zu werden. Man solle sich nicht so anstellen, auf Hilfe am besten erst gar nicht bauen.

Ein weiterer Nerv, der mutwillig abgeklemmt wird. Verrückte Welt.


Bordüre

Was braucht ein Mensch

Wir müssen atmen. Soviel ist sicher. Ohne zu trinken wird's auch nix. Unser Magen will gefüllt sein, am besten nicht mit dem Fraß, der zwar kurz geil ist, aber letztlich nicht gehaltvoller als ein Stück alte Pappe. Was noch? Reicht doch. Taddaaa, wir haben überlebt. Gerade mal so. Ein Kind, das weinend liegen gelassen wird mit der Begründung, es hätte all das doch schließlich bekommen, ist ein verlorenes Kind. Ist noch ein Mensch, der egal ist. Der eigentlich gar nicht da ist. Sehr gut geeignet für den perversen Ameisenstaat, den wir uns basteln. Aber ein Mensch ist ein Fühlwesen. Wir wollen so viel mehr. Wir brauchen so viel mehr. Jemanden, der wissen will, wer wir sind. Wie unsere Träume riechen, welche Wege unsere Gedanken beschreiten, wozu wir fähig sind und was für uns so gar nicht passt. Wir brauchen echte Nähe. Geborgenheit. Den Schutz, uns in einem feinfühligen Umfeld zu bewegen.

Hast du manchmal das Gefühl, keinen Platz zu haben? Ist da im Dämmerschein die Frage, ob du wirklich das machst, das dir entspricht? Fällt es dir von Zeit zu Zeit quälend schwer, deine Bedürfnisse wahrzunehmen? Und fallen dir schier unendliche Ausreden ein, weshalb das doch auch alles so seine Richtigkeit hat? Was willst du sein? Ameise oder Mensch?

Bordüre

Vertrau' lieber der Technik

Was haben wir nur getan, bevor es all das bunte Plastikzubehör, Computer und Statistiken gab?! Wie nur konnte die Menschheit so lange ohne überleben?

Noch bevor die rote Flut überfällig wird, bin ich mir sehr sicher, dass eine kleine neue Seele meinen Bauch bezogen hat. Der erste Schwangerschaftstest - super extra sensitiv, mit bis zu neunundneunzigprozentiger Sicherheit ab zehn HCG - sieht das anders. Ich bin verwirrt. Hm. Aber ich bin mir doch so sicher. Oder? Ich beginne zu hoffen, nicht die schwangerste Scheinschwangere zu sein. Wäre schließlich irgendwie peinlich, sich zu irren. Einige Tage lang wage ich es nicht, den zweiten Test vollzupieseln, der geduldig im Badschrank auf seinen großen Austritt wartet. Wie von selbst meide ich seit dem ersten Indiz so manches Lebensmittel und dennoch kann ich mich erst so richtig freuen, als der erneute Test das zweite rosa Strichlein zeigt. Wie kann es sein, dass ein kleines Plastikgerät, gefertigt für die stumpfen Massen, mir mehr Gewissheit verschafft, als mein Körpergefühl? Auch die telefonische Terminvereinbarung des ersten Kontrolltermins (dieser Begriff!) steht ganz im Zeichen des Abgespaltenseins. Die Arzthelferin scheint zu keinerlei Mitschwingen im Stande, schließlich ist Kinder kriegen doch längst ein Routineeingriff. Statt eines freudigen Glückwunsches erfragt sie also äußerst geschäftsmäßig den ersten Tag der letzten Periode. Den weiß ich nur grob. Ich schreibe nicht mit. Wie nachlässig. Dabei gibt's dafür doch sicherlich super Apps. Die Frau am anderen Ende der Leitung klingt genervt: "Ja, aber, Sie müssen mir doch jetzt ein Datum sagen können!". Auf meine Frage, warum sie mir gegenüber so gereizt klinge, erwidert sie wie selbstverständlich: "Na! Ich muss doch hier was in den Computer eingeben können! Um den Geburtstermin ausrechnen zu können!". Ach so. Ja klar. Da muss dann die Höflichkeit natürlich mal zurückstecken. Und wenn der kleine Krümel dann sein eigenes Tempo hat und seine Reise später antreten möchte, dann werden die Leutchen in den weißen Kitteln unruhig. Dann kommt man vielleicht doch lieber an den Tropf, dann wird der große Körper überlistet und der kleine lernt direkt, dass seine Bedürfnisse keine Rolle spielen. Und wenn's nicht funzt, wird eben mit Zangen und Saugglocken nachgeholfen. Oder einfach direkt schön mit Termin ab unter's Messer. So kann man alles korrekt planen, ist doch super.

Was ist nur los? Woher diese Angst? Wem nutzt dieser Irrsinn? Wir alle haben doch alles was wir brauchen in uns. Uralte Programme leiten uns in Grenzsituationen sicher.

Du brauchst das alles nicht. Nicht wirklich. Es ist nur Betäubung. Echte Sicherheit erwächst nicht im Reagenzglas. Sie wohnt tief in dir.


Bordüre

Kinderaugen

Ein verregneter Vormittag. Mösjö Frechmaus und ich staunen nicht schlecht, als es während wir gemütlich am Frühstückstisch sitzen anfängt in Strömen zu gießen. Toll! Sturzbäche attackieren unsere Fenster, ein Brausen ist zu hören. Als MF dann noch eine Fliege - die erste seit Wochen, es ist Winter - an der Scheibe entdeckt, ist diesem Morgen ein Platz in der Bestenliste sicher. Wir wohnen unter dem Dach und eines der Wohnzimmerfenster ist so in die Schräge eingearbeitet, dass das Fensterbrett nur etwa sechzig Zentimeter über dem Boden beginnt. Mit ein paar übereinander geschichteten dicken Wälzern über die Oper, große Meister der Renaissance und die unberührte Natur als Podest davor also der ideale Ausguck für MF. Als Zeichentisch eignet sich das Fenster samt Rahmen und nahegelegener Wand ebenfalls famos, zumindest, wenn es nach MF geht.

An diesem zauberschönen Vormittag kommt Herrn Klettermaus eine tolle Idee, was man mit diesem Fensterbrett noch anfangen kann: es erklimmen! Ich kann gar nicht so schnell schauen, wie mein kleiner Flitzmann über seinen Bücherturm hinweg, mit einem Fuß an einem der Stühle, die wir von meiner Oma geerbt haben, sich abdrückend, das zwanzig Zentimeter schmale Fensterbrett bezwingt. Ich hinterher, das sieht mal wieder schwer wagemutig aus. Stolz wie Oskar - na klar! - steht MF auf dem Brett aus Muschelkalk. Begeistert lässt er seinen Blick über den Frühstückstisch gleiten, eine ganz neue Perspektive. Wir feiern den Moment. Dann setzen wir beide uns nebeneinander auf diesen wunderbaren neuen Platz, an dem gerade eben noch die Fliege damit beschäftigt war den halben Tag zu versuchen rauszufliegen und sich verdattert zu fragen, wieso es verdammt noch mal nicht klappt.

Mit künstlerischer Überzeugung zeigt mir MF seine Werke aus abwaschbarem rotem Wachsmalstift auf Fenster und Fensterrahmen. Ich gebe mir allergrößte Mühe meine Empathie soweit abzuklemmen, um ihm möglichst ernsthaft zu vermitteln, dass ich nicht möchte, dass er diese Teile der Wohnung als Leinwand gebraucht. Da erregt etwas anderes MFs Aufmerksamkeit. Auf dem Tisch, direkt vor uns, steht ein Holzbrett mit drei großen Kerzen, sie sind aus. Als nächstes werden also diese tollen Geräte untersucht. Das Wachs, das sich oberhalb des Dochtes so schön dünn einrollt beim Abbrennen will abgeknibbelt werden,  und ob die Kerzen alle gleichzeitig in die leere Vase passen, die neben dem Holzbrett steht, ist ein weiteres faszinierendes Rätsel, das an diesem Morgen auf seine Lösung wartet.

Als MF das Feuerzeug ergreift, das dabei liegt, überfällt mich die Konvention: "Uh, nein. Das nicht, Froschkind", sage ich und ich höre meiner Stimme an, dass ich mich gerade frage, was das jetzt ist. Sekunden zuvor, als ich MF nicht davon abgehalten habe, sich das Feuerzeug zu schnappen und es in seinen kleinen Händen zu wiegen, kam mir unvermittelt der Gedanke, was wohl einige meiner Bekannten jetzt sagen - oder schlimmer noch: denken - würden. Wie fremdgesteuert spule ich also besagte Worte ab. Dass sich die Situation für mich aber nicht im Entferntesten brenzlich anfühlt, spüre ich erst mit einsetzender Reflexion. Mein Kopf sucht Argumente für mein Gefühl und wird schnell fündig: die Notwendigkeit, sich zackzack alles Mögliche zu sichern, wenn er endlich einmal unbeobachtet ist, um es schnell schnell auszuprobieren, bevor es ihm wieder weggenommen wird, stellt sich für MF umso weniger, je freier er ausprobieren und lernen darf, so lange wir bei ihm sind. So kann ich ihm beibringen, dass nur Große das Feuerzeug (das so schwer angeht, dass ich es kaum schaffe) anknipsen dürfen, dass er aber darüber hinaus unbehelligt spielen darf, er würde die Kerzen entfachen. Dass er sein geliebtes Messer zum klettern eben weglegen muss, wird auch durchgenommen und wiederholt.

So gibt es zehnmillionen Dinge, die ich rigoros unterbinden könnte, weil man das eben so macht. Die dann entweder im Verborgenen doch ausprobiert werden würden oder - und diese Vorstellung empfinde ich als noch gruseliger - niemals ausgetestet werden würden. Oder ich nutze diese Chance, begleite diesen kleinen Menschen bei seiner Erkundungstour durch die Welt und nehme das Geschenk an, das mir MF wie selbstverständlich jeden Tag aufs neue macht: die Welt wieder ein wenig durch Kinderaugen zu sehen.

Etwas später entzünde ich auf MFs Wunsch die abgeknibbeltste der drei Kerzen. Gemeinsam sitzen wir davor. Pusten von Zeit zu Zeit abwechselnd leicht in Richtung Flämmchen und lachen, weil das Feuer dann so schön zappelt.

Bordüre

Müll

Ich war nie ein Groupie. Als in den Neunzigern die Boygroups wie die Schleimpilze aus dem Boden schmierten und mit ihren polierten Images auf meine pubertären Hormone trafen, war ich selbstverständlich auch heiß verknallt. Optisch eindrucksvoll fand ich zwar keinen der überschminkten Pickelgesichtchen, aber einen Kloß im Hals hatte ich dann dennoch, als eine der austauschbaren Gruppen ihren großen Auftritt bei einer ehemals etablierten deutschen Familiensendung hatte. Was mir vor meinem mir gegenübersitzenden Paps natürlich mörder peinlich war. Aber wie dann damals so manche Mutti ihre Kleine auf ein Konzert begleitet hat, um schließlich selbst die Ellbogen auszufahren, um sich für ihren Ohnmachtsanfall ganz nach vorne zu drängen, so schlägt mein Herz nun höher, wenn ich das Rumpeln des Müllwagens vernehme. So schnell wir können, flitzen Mösjö Frechmaus und ich dann ans Fenster, um dem tollen Geschehen begeistert zu folgen. Heute können wir unser Glück kaum fassen. Als wir aus der Haustür treten steht er da. Der Müllwagen. Mit scheppernder Gelassenheit verschlingt er die schmotzig stinkige Pampe, die ihm serviert wird. Männer in herrlich bunten Outfits vollführen eine lang einstudierte Choreografie, jeder Schritt sitzt. Dann fährt die große Show weiter. Und zwar genau den Weg entlang, den wir gerade gehen wollten. Wie schön - nicht, dass wir für das fesselnde Treiben keinen Umweg gegangen wären. Bis wir uns aus einem kleinen Schnack mit vorbeikommenden Bekannten gelöst haben, ist das Objekt unserer Obsession bereits dröhnend um die Kurve gebogen. Und wir nun hinterher! Die Omi ist auch dabei und wir nehmen Mösjö Frechmaus auf den Arm und die Beine in die Hand und dann ab dafür. Laut lachend rennen wir um die Ecke. Als wir den Müllwagen jubilierend erreichen, lassen sich die Müllmänner angemessen feiern und winken uns fröhlich zu. Dieser Moment ist zauberschön. Für alle. Vor unserem Ziel angekommen, bleiben wir noch so lange auf der Straße stehen, bis das silber-orange Wunderding die nächste Biegung genommen hat. Bis dahin haben wir noch eifrig gewinkt und mit den Männern um die Wette gelacht.

Ein Tag, der so frei heraus beginnen darf, ist der beste Tag, den ich ersinnen kann. Und ich verdanke diese Erfahrung des wiedergewonnenen schrankenlosen Daseins meinem Kind.

Bordüre

Pech gehabt

Wir sind mit einer befreundeten Familie im Wildpark und machen Pause an einer Feuerstelle, darum einige Holztische und Bänke. Am Nachbartisch sitzt ein bereits ergrautes Ehepaar mit ihren Enkelkindern. Eine herrliches Bild. Eigentlich. Der ältere der beiden Jungs, er dürfte gerade seinen dritten Sommer erleben, sitzt unter dem Tisch und weint. Der Großvater beugt sich halbherzig (wenn überhaupt) zu ihm herunter und raunt ihn entnervt an: "Jetzt hör doch mal auf zu heulen und sag was los ist.". Der kleine Frosch da unten schluchzt: "Ich will zu meiner Mama!". Großmutter weiß Rat: "Die ist aber verreist, da haste Pech gehabt!". Das kleine Häuflein Mensch sackt unter dem Tisch noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Schau mal, der kleine Junge ist total traurig, ihm fehlt seine Mama, magst du ihn mal trösten?". Auf den Versuch unseres Freundes hin, hier etwas Richtiges zu tun, als er seine Tochter ins Feld zu schicken versucht, erwidert die Alte: "Nee, das brauch' sie nich', der kriegt sich schon wieder ein!". Ein weiterer verbaler Hieb dürfte dem Jungen den letzten Zweifel nehmen, ob er nicht doch etwas wert sei: "Ja die Eltern sind verreist, machen einen drauf und wir haben den Schaden...".

Kennst du das? Fühlst auch du dich an manchen Tagen, in manchen Momenten wie dieser Junge? Sind es nicht diese vermeintlich kleinen Situationen, die unser Fundament einst derart gründlich ins Wanken brachten, dass wir unser Leben lang versuchen werden, die Mauern darüber zusammen zu halten?


Bordüre

Alles

Ein Kind gibt in jeder Sekunde alles von sich. Stell dir das mal vor, hundert Prozent. In jedem Moment. Ist dir klar, was das bedeutet? Das bedeutet, sich absolut schutzlos zu zeigen. Das bedeutet bedingungslos zu vertrauen. Von ganzem Herzen zu lieben und aus vollster Seele zu lachen. Es ist das reinste und vollkommenste Sein überhaupt. Und wenn du ein Kind davor bewahren möchtest, ebenso hohe Mauern und stachelige Zäune um seine Seele zu bauen, wie du es getan hast, dann schütze es!


Bordüre

Knall se ab

Es ist heiß. Geduldig haben Mösjö Frechmaus und ich uns Zentimeter um Zentimeter zur Freibadkasse vorgeschoben, zu unserem Glück tummeln sich nun die meisten Mitplantscher auf und um die geringelte Wasserrutsche herum oder versuchen sich in Annäherungsversuchen im großen Becken. Erinnerungen an doch bereits relativ lang vergangene Zeiten werden wach und einmal mehr bin ich heilfroh, kein Teenie mehr zu sein. Auf der Liegewiese um das vollgepieselte Baby- und Kleinkinderbecken herum haben leibhaftige Fallstudien Platz gefunden. Überwiegend übergewichtige (wir lassen diesen Euphemismus mal so stehen) und künstlich nachpigmentierte Frauen lassen sich auf der Decke ihr Kippchen schmecken, während ihre Kinder über den Platz pesen. Eines dieser illustren Grüppchen hat sich um den Wasserpilz im Pipibecken versammelt. Durch schieren Spritzdruck in Wallung geratene Körpermassen wabbeln in der Sonne. Eine der Damen entreißt einem etwa zweijährigen Mädchen in pinkem Rüschenglitzerbikini die Pumpgun, zielt und feuert einen Warnschuss ab. Ihre Freundin - wohl die Mutter der kleinen Prinzessin - raunt ihr daraufhin mit nikotinverätzter Stimme zu: "Knall se ab! Knall se ab!". Ihr kehliges Lachen erstickt in einem Hustanfall. Als sie wieder zu Stimme kommt, wendet sie sich erklärend an ihre Zwergin: "Höa ma! In Krieg würdes' du nich' ein' Tach überleben!".

Die Botschaft ist der Knaller.

Bordüre

Warum nicht

... erst die Teewurst vom Brot schlecken und dann das Brot essen?

... mit der Gabel das Müsli essen?

... gemeinsam im Geschäft zur Musik tanzen?

... den ersten selbst gepopelten Popel mitfeiern?

... durch die Gemüseabteilung im Supermarkt hüpfen?

... laut aufschreien vor Freude über ein kleines Gänseblümchen?

... zwei verschiedene Socken anziehen?

... mit dem Löffel das Wasser aus dem Becher löffeln?

... das eigene Ziel mal eben aus den Augen verlieren um gemeinsam einen krummen Stock zu bestaunen?

... den Impuls des helfen Wollens aufnehmen, auch wenn die ersten (hundert) Versuche so richtig daneben

    gehen?

... mit dem Finger vor dem Essen Joghurt aus dem Becher schlecken?

... den Sprung in eine verlockende Pfütze wagen?

... probieren, wie Löwenzahn schmeckt?

... einfach mal im Gras wälzen und dabei in die Wolken schauen?

... einen Hocker mitten ins Wohnzimmer stellen, ihn erklimmen, umherschauen und wieder absteigen?

... nur mit den Menschen Zeit verbringen, bei denen man sich geborgen fühlt?

... sagen, wenn man etwas nicht will?

... mit (d)einem Krabbelkind gemeinsam eine Blumenerde-Verkostung erleben?

... auch mal auf (d)ein Kind hören, statt ihm ständig deinen Willen aufzuzwingen?

... (d)einem Kind mal eine ehrliche Frage stellen?

... auf Sprüche wie: "Hab ich dir doch gleich gesagt!" oder "Das kommt davon!" verzichten?

... (d)ein Kind stattdessen tröstend in deinen Armen wiegen?

... dich selbst als dein Kind verstehen und lieben?

Bordüre

Acht Kostbarkeiten

Auf dem Spielplatz. Eine Mama sitzt neben ihrem knapp zweijährigen Sohnemann im Sand und erzählt von Zuhause: "Nä! Ich bin auch froh, dass der jetzt in der Kita ist. Ich wollte mit dem auch nicht mehr zu Hause sein, so jeden Tag", ein Augenrollen untermalt ihre liebevollen Worte. 


Im IKEA. Eine Mama versucht vergeblich, ihre spielende Tochter aus dem Kindergewusel im Restaurant zu bekommen: "Ella! Komm!". "Nö". "Gut. Dann lassen wir dich eben hier!".


Auf dem Kindergeburtstag. Eine Mama zeigt auf ihre hinter Seifenblasen herumrasende Tochter: "Das mag die escht so gerne. So'n Zeug hatten wir auch zu Hause und dann is das einmal im Badezimmer ausgelaufen. Hier so geht das ja noch. Aber zu Hause. Nä. Dann haben wir das weggetan".


Am Strand. Ein Papa möchte nicht, dass seine Kleene im seichten Wasser nach Fischis schaut, da sie beim begeisterten Hinterherspringen mit Wasser spritzt und ein Häuchlein davon die haarigen Beine der Eltern erreicht: "Lass das!". Die Nachwuchsbiologin flitzt begeistert weiter. "Lass es, sonst tauch ich dich unter!".


Im Supermarkt. Eine frisch gebackene Mama erzählt mir begeistert, dass ihr einige Wochen altes Mäusekind so schön ruhig und genügsam sei: "Ich kann die einfach auch mal für sich liegen lassen und die beschäftigt sich. Nur noch nicht immer dann, wenn es mir passt" und zu ihrem kleinen Würmeli gerichtet: "Aber das lernste auch noch, gell?".


Im Schinarestaurant. Eine untersetzte Mama mit strähnig verwasserstofften Haarfetzen rauscht behände an. Ihre kleine Maus, die sämtliche Jungs unablässig abknutscht - notfalls gegen deren Willen -, verlässt wie alle anderen Kleinen regelmäßig wagemutig die Kinderecke, um durch die Tische zu wetzen und Eltern und Service auf Trab zu halten. "Mandy, du bleibst jetze gefälligst mal hier drinne!". Und zu jemandem schräg hinter uns gewandt: "Wenn se nich hört, schlagt se ruhig zu mir!".


Auf der Straße. Eine Mutter lässt sich dezent herablassend über ihren Spross aus. Der Jugendliche, nur wenige Schritte neben ihr auf seinem Fahrrad lungernd, tut ein bisschen zu angestrengt so, als würde er davon nichts mitbekommen. "Boa. Der nervt mich so! Ich könnt den echt...!". Eine vielsagende Geste unterstreicht den würgenden Gesichtsausdruck.


Beim Kindersport. Eine Mama versucht sich als Mediatorin im Mäusestreit. Die Anklägerin keift einem anderen Mädchen ein wütendes: "Hä! Ich versteh dich nicht!" entgegen, woraufhin die so neutrale wie faire Erwachsene - übrigens die Mama der Angeklagten - hinterherfeuert: "Ja! Ich versteh die auch nicht!".

Bordüre

Hier und Jetzt

Wir haben ein Problem. Ein weiterer Fühler hat sich seinen Weg nach innen gebahnt und die Verarbeitung dessen, was mich an der Stelle, an die er eigentlich gehört, erwartet, braucht an diesem Morgen mein ganzes Sein. Das Gleiche gilt für Mösjö Frechmaus, mein Kind im Draußen. So sehr ich mich bemühe, immer wieder sehr bewusst ganz bei ihm zu sein, es reicht hinten und vorne nicht. Viel mehr als sonst, braucht er meine ganze Aufmerksamkeit, fordert sie zunehmend vehementer und lauter ein. Ich kann eigentlich nicht mehr. Würde so gerne einmal kurz laut heraus brüllen, vielleicht etwas kaputt machen und mich dann unter meiner Bettdecke verkriechen. Statt dessen kneife ich die Arschbacken zusammen, wende mich meinem schluchzenden Kind zu und versichere ihm, dass ich es lieb habe. Sage ihm, dass es mir leid tut und dass es gerade bestimmt ganz schön doof ist. Ich streichle es und gebe ihm einen Kuss.

Und ich frage mich, warum es wohl so ist, dass, je mehr ich gedanklich ganz wo anders bin, MF exponentiell unruhiger und unzufriedener wird. Denn es ist eindeutig der Kopf, der stört. Werkle ich körperlich aber ausgeglichen und wirklich da vor mich hin, ist es in der Regel völlig ok. Warum also jetzt nicht? Klar, meine innere Unruhe überträgt sich direkt und unmittelbar auf mein Kind. Er ist der Spiegel meiner Seele. Er ist der Spiegel meiner Seele, so wie es mir in diesem Augenblick geht. Und noch viel mehr. Er ist ich. Ich als kleine Maus. Genauso verzweifelt einsam und suchend habe ich mich in den Momenten gefühlt, in denen das Muster angelegt wurde, dessen Wahrnehmen mir an diesem Morgen das Gleichgewicht nimmt. Und genau aus diesem Grund, habe ich das Verlangen danach, zu brüllen, zu weinen, um mich zu schlagen und mich irgendwo einzumummeln und zu verkrümeln. Ich bin gerade wieder diese kleine Maus. Und die zeigt ihre Überforderung nunmal auf körperliche Weise. Völlig klar. Genauso, wie der kleine Mensch, der gerade mit feuchten Augen vor mir steht. Diese Einsicht! Das zu sehen, in diesem Moment! Es ist die Chance, dieses Schema aufzubrechen, den kleinen Mäusen Raum zu geben. Zu heilen und vielleicht sogar manche Wunden erst gar nicht zuzufügen. Und dann denke ich daran, wie oft ich Erwachsene sehe, die von ihrer kleinen, tobenden Maus gelenkt werden. Ohne dies zu spüren. Ohne sich zu sehen.


Bordüre

Weg gegangen, Platz gefangen

Im Supermarkt. Wir bleiben in der Gemüse- und Obstabteilung hängen und beladen unseren überdimensionierten Einkaufswagen mit vielen, auf Perfektion getrimmte, nicht-heimischen Früchten, von denen immerhin ein Bruchteil auf unserem Einkaufszettel stand. Warum es mir absolut nicht entspricht, nur ruckzuck alles Vorgeplante einzupacken und dann Tschüss, habe ich noch nicht zu entschlüsseln versucht. Als wir vor der Palette mit den nachgereiften spanischen Blaubeeren stehen, blafft es von der Seite: "Weg gegangen, Platz gefangen!", das "Nänänänänäänäää!" füge ich im Geiste an. Tatsächlich schwingt in der Stimme aber weniger Frechheit, als vielmehr eiserne Härte mit. Was geschehen ist? Ein kleiner Mensch, ein Junge von etwa vier Jahren, wollte sich hinten auf den Familien-Einkaufswagen stellen, wo er offenbar zuvor stand. Genau dort hin, wo nun seine circa zwei drei Jahre ältere Schwester Platz genommen hat. Nicht sie ist es, die mit diesem entleerten Satz dem Kleinen eine Ohrfeige verpasst. Es ist die Mutter. Der Vater steht daneben. Der Junge beginnt zu weinen. Keiner reagiert. Sein Wimmern wird ein wenig lauter. Nichts. Er steht einfach so vor dem großen Wagen und weint. "Jetzt hör endlich auf mit der Heulerei!", donnert es auf den verzweifelten Schützling ein und der Vater holt direkt zum nächsten Schlag aus: "Schluss jetzt! Ich kann es nicht mehr hören!". Mein Herz steht still. Die Mutter kommt und versetzt dem hilflosen Wesen, das eigentlich ihr Kind sein sollte und sich mittlerweile schutzsuchend an seinen Kuschelhasen schmust, einen weiteren Hieb: "Weg gegangen, Platz gefangen!", wiederholt sie noch einmal. Mehr sagt sie nicht. Sieht die kleine Maus dabei nicht einmal an.

Ab wann darf ich als Außenstehende eingreifen? Welcher Stufe der Grausamkeit muss ich beiwohnen, um etwas zu tun? Und dann? Was dann? Was kann ich tun? Wie könnte ich helfen? Mehr, als den Versuch, Blickkontakt zu diesem kleinen Menschlein aufzubauen, werde ich an diesem Tag nicht tun. 

Bordüre

Grenzenlos

Nein, das darf man nicht. Das macht man nicht. Das gehört sich aber gar nicht.

Die Angst davor, seinem Kind nicht genug Grenzen zu setzen, scheint weit verbreitet. "Wenn ich ihm das erlaube, tanzt der mir bald auf der Nase rum", "Wenn ich ihr das nicht verbiete, wird sie sich nie in die Gesellschaft einfügen".

Kinder brauchen Grenzen. Natürlich. Aber warum sollte das Mittel der Wahl diese schier endlose Palette an starren und standardisierten Verboten sein? Durch mein bloßes Sein, durch das, wofür ich stehe, gebe ich automatisch eine Richtung vor, setze wie beiläufig einen Bezugsrahmen. Ich bin in jeder Sekunde das Orientierungslicht. Je mehr ich mir dessen bewusst bin und je authentischer ich dabei bei mir bleibe und eben nur das nicht erlaube, was mir ganz persönlich in genau diesem Moment nicht passt - völlig egal, aus welchem Grund - und das auch so kommuniziere, desto höher die Akzeptanz. Nur, wenn ich mein Kind und mich ernst nehme, auf endpersonalisiert verbogene Phrasen verzichte und statt dessen ganz einfach sage, dass ich das gerade nicht möchte oder nicht kann, wird eine Grenze nachvollziehbar sein. Natürlich eben.

Bordüre

Bist Du frei

Ein mumpfig-dumpfes Gefühl macht sich in dir breit. Hast du wieder etwas falsch gemacht? Wie hat der das denn gemeint? Warum hat sie so gelacht? Es rumort unangenehm in deiner Magengegend.

Das schaff ich nicht. Ich schaff es wieder nicht.

Ich hab' dir ja gleich gesagt, dass es nicht klappt. Siehste, das passiert, wenn man nicht hört. Wer nicht hören kann, muss fühlen. Lass das besser mich machen. Du kannst das noch nicht.

Scheiße. Da ist es. Dieses Gefühl der totalen Unruhe. Keine Ahnung, was das jetzt wieder soll ...mal sehen, was gerade in der Glotze läuft... nur Mist... egal. Du willst ja eh parallel surfen.

Der Typ vorhin war echt unverschämt. Und du warst natürlich so dumm und hast den Mund wieder nicht aufgemacht.

Ich bin so doof.

Dir wird übel, nicht so, wie von alten Sojasprossen oder wie wenn du durch die schmuddelige Bahnunterführung gehst, in der es immer nach allem riecht, was der menschliche Körper auszuscheiden vermag. Das hier ist was anderes. Tiefer. Unergründlich. Diese Übelkeit macht dich rastlos. Du musst jetzt jemanden anrufen. Irgendjemanden. Egal. Hauptsache reden. ... Keiner da. Gespült und deinen Schreibtisch aufgeräumt hast du schon. Rausgehen? Neee...

Ich brauch' das gar nicht erst probieren. Warum sollte ausgerechnet ich das schaffen.

Da leuchtet ein Funke in dir auf. Aber wenn doch? Warum eigentlich nicht? Vielleicht...

Gefährlich, gefährlich. Aber auf dein tief verwurzeltes Schema ist Verlass. Du hast es mit der Muttermilch aufgesogen. Wir alle haben das. Mach dich klein! Verhalte dich still! Wer weiß, was sonst passiert...

Ja. Was eigentlich?

Auf einer Skala von eins bis zehn, wie frei bist du?

Bordüre

Ach nee, Bielefeld

Mösjö Frechmaus und ich stehen im Zug auf dem Gang, bereit, beim nächsten Halt auszusteigen. Eine mir unbekannte Frau, deren Lebensabschnitt der Jahreszeit entspricht - Winter -, erblickt MF und kann nicht anders. Da muss sie jetzt aber doch was sagen! Ja, da muss sie doch ihren reichen Erfahrungsschatz an die leibhaftige Folgegeneration weitergeben! Woher soll die junge Frau denn auch wissen, was zu tun ist, wenn sie da jetzt nicht unterstützend eingreift! Na, was ein Glück, dass es zu dieser schicksalshafte Begegnung kommt! Für mich völlig unvermittelt, spricht mich die Frau an: "Hat der keine Mütze auf?!", die Entrüstung in der in die Jahre gekommenen Stimme liegt schwer: "Draußen ist kalt!". Die Erkenntnis ist atemberaubend schlicht und über jede Diskussion erhaben. Dennoch kann ich nicht anders, als zu erwidern, im Zug sei es so warm, dass MF erschwitze, hätte er seine Mütze auf. Die Jugend von heute. Mischt sich in Sachen ein, von denen sie keine Ahnung hat! Schweigend fahren wir eine Zeit lang weiter. Da fällt der Dame ein, dass dieser Zug ja noch bis Amsterdam weiterfahre. "Ach nee. ... Bielefeld!". Nachdenkliches Schweigen, dann die Erkenntnis: "Der Zug, in dem ich davor war, ja, der fährt heute noch nach Amsterdam!". Pause. Da besinnt sie sich: "Ne. Nach Hamburg. Hamburg Altona!". Dann weist sie mich netterweise noch darauf hin, an welcher Tür wir gleich aussteigen. Wie aufmerksam von ihr! Eine abgespannte Mutter erscheint mit ihren zwei kleinen Töchtern im Gang, die drei gesellen sich zu uns, die Stimmung zwischen ihnen ist gereizt. Die hilfsbereite Dame, mit der wir uns bereits angefreundet haben, bringt auch die Mutter rasch ins Bilde darüber, wo der Ausstieg ist, rüde unterbrochen von einer Lautsprecherdurchsage: "In Kürze erreichen wir Pimpelsheim. Ob sie ihre Anschlusszüge erreichen, sehen sie, wenn das Licht an geht. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Sänk ju for schuhsing Deutsche Bahn.". Die Mutter der zwei zugfahr-müden Mädels reagiert prompt und wendet sich an die Gang-Omma: "Der hat jetzt aber gesagt, der Ausstieg ist in Fahrtrichtung rechts!". "Ja, hier!". "Das ist aber links!". "Nee!". "Doch! Wir fahren ja in diese Richtung!". "Ne! Wir fahren da lang!". "Ähm... (die Mutter schaut mich mit einer Mischung aus Belustigung und Unglaube an, in ihren rot geränderten Augen die Bitte, sie mal eben zu kneifen) ...nein. Wir fahren hier lang!". "Ach so. Ja.".

Bordüre

Teewurst

Frühstück. Wie bereits seit einigen Wochen am kleinen Kindertisch mit den Zwergenstühlchen, zwischen unseren Tellern ein grüner Playmo-Traktor aus meinen Kindertagen und ein rotes Duplo-Motorrad mit einem gruseligen Clown darauf. Teewurst ist der absolute Renner und selbst das Brot schmieren natürlich sowieso. Mösjö Frechmaus hantiert also äußerst geschickt und voll bei der Sache mit einem seiner Kindermesser und bearbeitet die Wurst. Erbsengroße Mengen der rosa Schmiere befördert er geduldig auf sein Brötchen. Ich merke einmal mehr, wie schwer es mir Großen immer wieder fällt, das unwillkürliche Füßescharren einzustellen. Die Langsamkeit auszuhalten. Und einfach mal nicht eingreifen zu wollen. Wie uneingeschränkt Kinder sich einer Sache hingeben können, bewundere ich auch an diesem Morgen staunend. Nach einer gefühlten Ewigkeit sind etwa elf Prozent des Backwerks bestrichen. Zeit, die Teewurst einer Kontrolle zu unterziehen. Das Messer mit der Beute an der Spitze zum Mund führend, hält MF in der Bewegung inne, wirft mir einen fragenden Seitenblick zu und vollendet schließlich seine Tat mit einem seligen Grinsen. Herr Knigge würde sich im Grabe umdrehen. Uns gefällt's. Gerade das Wissen darum, dass ein Messer ja gar nicht in den Mund gehört, macht diesen Moment so heimlich schön.

Bordüre

Kakophonie mit Zug-Geräuschen

Im Zug von Opi und Omi nach Hause, teilen MF und ich uns ein Kleinkindabteil mit einer jungen Familie: Mama, Papa und ein erst einige Wochen altes Baby. Dem gut-geheizten und nicht-durchlüftetem Klima im Zug angemessen, trägt die Mutter lediglich ein ärmelloses Top. Da die Maus ein Baby, also quasi irgendwie kein Mensch mit normalem wärme-kälte-Empfinden, ist, liegt es in Winterklamotten und Zottel-Overall da, um den es jeder Inuit im arktischen Schneesturm glühend beneiden würde.  Dieser kleine Mensch wimmert nun leise im Kinderwagen (zu warm kann ihr - es ist ein Mädchen - nun wirklich nicht sein!). Fasziniert beobachten MF und ich das Reizspektakel der Sonderklasse, das beide Eltern daraufhin veranstalten. Da wird mit einem roten Plastikbecher nahe vor dem Gesichtchen geknistert, hochfrequentes Schnipsen und unverständliche mittellaute Rufe lösen sich ab, gespickt mit allen möglichen Lauten wie "sch sch schschsch", "s s sss", "k k k", auch Pfeifen bleibt nicht unversucht. Schließlich wird der rote Plastikbecher noch einmal zu Hilfe geholt. Mit diesem spielt die Mutter unermüdlich an den Lippen ihrer kleinen Tochter und führt so den Saugreflex ad absurdum. Während all dem liegt dieser kleine Mensch wie ein Käfer auf dem Rücken, dem nichts anderes übrig bleibt, als darauf zu warten, dass ihm ein plötzlicher Windstoß in die gewollte Richtung verhilft.

Stell dir vor, du liegst beinahe unbeweglich in einer dir unbekannten Umgebung, es ist sehr warm und das Licht ist ein bisschen zu hell. Da dröhnt unvermittelt eine noch nie gehörte Stimme irgendwo über dir, gefolgt von einem knisternden Geräusch und hohem Piepen, untermalt von andauerndem Rumpeln, Holpern, Klackern und hier und da einem mechanischen Zischen. Du riechst und fühlst, dass da noch andere sind, auch Mama und Papa. Was wünschst du dir?

Bordüre

Mit Essen spielt man nicht

Stell dir vor, du tauchst ein in eine dir unbekannte Kultur. Du sitzt an einem reich gedeckten Tisch. Vor dir tausend Dinge, die du noch nie gesehen, geschweige denn gekostet hast. Du bist unbeobachtet. Was machst Du?

Du greifst nach etwas, das spannend aussieht. Du matschst es in deinen Händen und erlebst so, wie es sich anfühlt. Schmatz! Das glitscht vielleicht. Du lauschst dem Klang des schmotzigen Etwas. Der Duft lässt dich automatisch deine volle Hand an deine Nase führen. Und wie schmeckt das? Wie fühlt es sich auf der Zunge an? Klebt es am Gaumen oder flutscht es nur so zwischen den Wangen? Der unbekannte Geschmack lässt dich das Probierte wieder ausspucken. Ums Schlucken ging es dir ja ohnehin nicht.

Begreifen! Schon mal gehört?

Bordüre

Farbstoff

Es ist heiß. Noch nicht einmal halb elf und schon Schweißflecken wie ein schmalziger Bauarbeiter. Mösjö Frechmaus und ich haben uns dennoch tollkühn in die Stadt gewagt, um ein paar schöne Utensilien für unsere Matschküche zu besorgen. Als MF einen Jungen genüsslich an seinem Eis schlabbern sieht, steht unsere nächste Station fest. Also auf zur Eisbude. In der Schlange stehend - eine junge Frau vor uns kann sich einfach nicht entscheiden -, frage ich Herrn Frosch, ob er ein Schokoladeneis möchte. Das "Ja!" kommt laut und deutlich. Da spricht mich ein älterer Mann hinter uns an: "Wir ham das früher nich gemacht. Wegen den Flecken. Nur Wanillje und Zitrone.". Obgleich ich das Wörtchen "Flecken" in diesem Zusammenhang nicht einzuordnen vermag, interpretiere ich munter drauf los und verstehe diese selbstbiografische Anekdote als Wink mit dem Zaunpfahl. So nach dem Motto "böser Farbstoff", "das ist Teufelszeug für dein Kind". Während ich einem strahlenden Mäusemann sein riesengroßes Schokoeis reiche, erwidere ich ebenso strahlend: "Und ich denke mir: wenn schon, denn schon!". Dass das aber einfach jeder für sich selbst wissen müsse, füge ich freundlich an, komme mir ein bisschen weltoffen vor und verabschiede mich mit einem "Guten Appetit!". Auf der schattigen Treppe einer wunderbaren romanischen Kirche sitzend, mümmeln wir dann voller Freude unser Eis. MFs Ausgabe trielt munter vor sich hin und von Zeit zu Zeit schlecke ich einmal rundrum die braune Soße ab - nicht, ohne dies vorher anzukündigen, versteht sich. Vorbeikommende Passanten lächeln uns fröhlich an. Glück ist ansteckend. Während wir schlemmen, bestaunen wir vorbeifahrende Busse, Straßenbahnen und Transporter. Ein herrliches Plätzchen. Und was einmal eine braune Kugel war, verteilt sich nun als dunkle Sprenkel auf MFs frisch gewaschener hellgrüner Hose und seinem Dino-T-Shirt. Selbst auf den Rücken haben es ein paar Spritzer geschafft. Erst vorgestern sah sein Outfit ziemlich ähnlich aus...

Meine Kombinationsgabe wird aber erst im kühlen Zuhause wieder einsetzen, als mein Hirn ein wenig weniger dampft und MF an mich rangekuschelt seinen wohlverdienten Mittagsschlaf einläutet. Das hat der Typ gemeint! DIE Flecken! Nicht die Flecken, die das Eis bunt machen, sondern, die, die das bunte Eis macht. Ich peile sein Alter über den Daumen, rechne blitzschnell zurück und komme zu dem Schluss, dass auch er bereits mit Waschmaschine im Haushalt ausgestattet gewesen sein könnte. Und dann bezweifle ich, dass er je mit seinen Kindern eine Matschküche eingerichtet hat. Um mit Erde und Sand und Regenwasser und Blüten und Steinen und wer weiß was noch allem drauf los zu matscheln. Ganzkörperschlammpackung inklusive. Vielleicht weiß er es nicht, aber er hat etwas versäumt. 

Bordüre

Ne, Justin, dat is bäh

Wir befinden uns mal wieder auf dem place to be: Spielplatz. Ein lauer Frühsommertag glitzert vor sich hin, sanfte Winde kitzeln die Blätter der paar Bäume, die die Bänke beschatten, auf denen sich die erschlafften Muttis zum Schwatz treffen, während sie ihre Kleinen im Sandkasten parken. Vogelgezwitscher, ein Hahn kräht, filigrane Schmetterlinge und weniger filigrane Hummeln sausen durch die Lüfte und setzen sich hier und da für ein Päuschen auf eines der unzähligen Gänseblümchen auf der saftig grünen Wiese. Die lieben Kleinen tun was sie halt so tun. Während die größeren lieben Kleinen sich schon relativ unbehelligt auf dem überschaubar abgezäunten Gelände bewegen dürfen, werden die kleineren Kleinen noch scharf bewacht. Der einjährige Justin bahnt sich krabbelnd seinen Weg durch's Gras, Mutti immer hinterher. Da sieht er es! Hui, sieht das spannend aus! Wie sich das wohl anfühlt? Und ob das so schmeckt wie das, was immer in meinem Fläschchen ist? Das guck ich mir jetzt aber mal genauer an! Noch zwei lange Züge, dann ist er da, zögert nicht lange und rupft das Ding ab. Jetzt schnell in den Mund damit und einer ausgiebigen Untersuchung unterziehen! Glückselig sitzt er da und - "Ne Justin, dat is Bäh!", schallt es unverhofft laut hinter ihm. "Tu dat Gänseblümschen sofort rausmachen, Justin!". Justin versteht nicht. "Schmeckt doch gar nicht schlecht, Mama", würde er wohl frecherweise mit vollem Mund erwidern, wenn er schon könnte. Aber was weiß der schon von der Welt! "Justin! Da hocken sisch de Tiere drauf!". Mama bekommt es nun ernsthaft mit Herrn Ekel und Frau Sorge zu tun und nötigt Justin eine einwandfreie Oralausgrabung auf. Ohne weitere Komplikationen kratzt sie noch das letzte Gänseblümchenblütenblättchen aus der kleinen Mundhöhle. Ich breche gleich, ich breche gleich nicht, ich breche gleich, ich...

Bordüre

Wünsch Dir was

Das Leben ist kein Ponyhof. Wir sind hier nicht bei Wünschdirwas. Man kann nicht alles haben.

Was sind denn das Bitteschön für Botschaften? Und für wen sind sie eigentlich wirklich formuliert? Wer könnte nur auf die Idee kommen, einem Kind einzureden, es könne nicht alles haben? Also auch erst gar nicht versuchen, ob da nicht doch was geht. Warum sollte ein Kind sich nicht alles wünschen und aus welchem Grund sollten wir Großen nicht ein wenig an der Erfüllung der Träume unserer Kinder mitwirken? Ist es tatsächlich erstrebenswert, unsere kleinen Menschen von Anfang an in engen Grenzen zu halten? Die Zäune so dicht um sie herum hochzuziehen, dass ihnen die Luft gerade so zum Überleben reicht? Um zu wachsen kein Platz. Frei nach dem Motto, die Welt ist schlecht, also lernst du am besten direkt von Anfang an, wie der Hase läuft. Um dir einen eventuellen Schock als Erwachsener zu ersparen, dass Wünsche doch nicht in Erfüllung gehen. Da bekommst du doch lieber vorsichtshalber bereits als Kind eingetrichtert, dass du nicht zu hoffen brauchst.

Was steckt dahinter? Mit "Ich-will-für-mein-Kind-nur-das-Beste" kann das doch nichts zu tun haben. Nicht wirklich. Denn wirklich gut wäre doch, als Kind deine Weite spüren zu dürfen, deine Bedürfnisse äußern zu dürfen und darin gesehen zu werden. Du würdest auch als Erwachsener immer wieder diese Weite aufsuchen. Einfach so. Könnte es nicht vielleicht so sein, dass es hierbei überhaupt nicht um unsere Kinder geht? Dass da vielmehr Botschaften weitergegeben werden, die Generationen vor uns schön für dich und mich konserviert haben? Aber unsere Ahnen sind längst nicht mehr übermächtig, nicht physisch zumindest. Wir sind groß. Du bist erwachsen. Du hast die Wahl, kannst dich befreien. Und du kannst etwas anders machen. Du weißt nicht so ganz, wie? Lass uns gemeinsam auf eine Reise gehen. Wir starten an deinem allerersten Tag auf dieser Welt:

Du wirst geboren, mit einer unbegreifbaren Weite und Weisheit. In rasend schnellem Tempo werden deine Flügel gestutzt. Bis du wie alle anderen Legehennen dein Dasein fristest, den Blick auf ein winziges Krümelchen am kargen Boden gerichtet. Um dich herum ein blindes Hacken, jeder für sich. Die Kluft zwischen deinen Möglichkeiten und dem, was daraus gemacht wurde, ist schier unüberbrückbar. Du wirst in deinem einen Leben nicht die Zeit haben, den ganzen Weg zu gehen. Kein Wunder, wurden Geschichten geschrieben und höhere Wesen ersonnen. Die Hoffnung auf eine zweite, dritte, vierte Chance.

Dieser sagenumwobene Funke, er schlummert in dir. Du trägst ihn fest in dir, niemand kann ihn dir je nehmen. Du kannst auf die Reise gehen. Deine Weisheit aufsuchen. Und schauen, was passiert. Wir sehen uns drüben!

Bordüre

Tiefgaragen-Tanz

Wir befinden uns in einer Tiefgarage. Ich atme den Duft gemischter Abgase und abgestandener Mief-Luft ein. Dazu das Einheitsgrau der lieblos gestalteten Autoparklandschaft. An einigen der etwas zu dicht geplanten Säulen erkenne ich Spuren missglückter Aus- und Einparkversuche. Ich frage mich, auf wie vielen der ausgewiesenen Frauenparkplätze gegenderte Männer ihre Schätzchen angebunden haben. Dass es keine Parkplätze für Kleine und Schwache - Geschlechter übergreifend - gibt, könnte eine Marktlücke sein. Oder für grundsätzlich Ängstliche. Für Rentner. Oder für alle, die einfach faul sind. Für Menschen mit kurzen Beinen und die, die sich auf Stelzen durch den Alltag stöckeln. Nicht zu vergessen, die, die es wirklich wirklich eilig haben. Eigentlich würde also eine einzige Parklücke reichen, die dafür über einhundertdreiundfünfzig Stockwerke verfügen würde. Vollautomatisch und ruckzuck hoch- und runtergefahren natürlich. Das würde auch das Problem mit den unfreiwillig lackierten Säulen lösen.

Allerdings wäre ich dann an diesem so unbeschreiblich uninspirierten Ort niemals zum Tanz aufgefordert worden. Welch ein Glück, dass es Parkhäuser gibt! Wir stehen also in einem solchen vor unserem Auto, bereit, uns einzupacken. Das heißt, ich bin bereit. Mösjö Frechmaus hat etwas gehört. Musik. Da sitzt doch tatsächlich einer in seiner Karre, lauscht einem mittelmäßigen Radiosender und genießt die stille Atmosphäre der Parkhaus-Einöde. Welches Etablissement bietet dem gestressten Mann von heute auch sonst noch die Möglichkeit, sich stundenweise einzumieten und sich mal genüsslich zurück zu lehnen.

Während ich mich daran machen möchte, den Kinderwagen in den Kofferraum zu wuchten, streckt mir MF seine kleinen Arme offen entgegen, sein ganzer Körper bittet mich, ihn auf meinen Arm zu nehmen, um kuschelnd das Tanzbein zu schwingen. Das machen wir! In diesem Augenblick gibt es absolut nichts Wichtigeres auf der Welt, als hier, in diesem miefigen Betonloch, unter flackernden Neonröhren, an einer unverkleideten, Mauseloch-niedrigen Decke hängend, zu tanzen. Ganz eng aneinander geschmiegt. Nur bei schnellen Drehungen lehnt sich MF genüsslich in die Kurve, strahlend. Er ist so kompromisslos vollkommen in diesem Moment, wie es nur Kinder vermögen. Und wenn wir sie lassen, können wir großen Verblendeten wieder ein bisschen in dieses staunende Dasein eintauchen.

Bordüre

Herzlich Willkommen

Stell dir vor, du wirst eingeladen. Dein Ankommen wurde lange vorbereitet, unbedingt solltest du endlich da sein. Deine Reise war überaus anstrengend, körperlich und auch im Hinblick auf die vielen neuen Eindrücke, mit denen die unbekannte Umgebung auf dich wirkt. Nach dem ersten aufgeregten Hallo schläfst du erst einmal eine Runde zur Stärkung. Als du wieder aufwachst, fühlst du dich bärenstark. Du kannst es kaum erwarten, diese dir neue Welt in all ihren Facetten zu entdecken, deine Gastgeber kennenzulernen. Du stehst auf und rennst zu ihnen. Das pure Leben auf zwei Beinen. "Guten Morgen!", lachst du, "Die Sonne scheint!" und wer mehr strahlt ist kaum zu sagen. "Och nee. Lass uns mal noch in Ruhe. Geh doch mal ins Wohnzimmer und mach da irgendwas - aber mach nichts kaputt!". Hm. Das hast du dir irgendwie anders vorgestellt. Aber gut. Schau mer mal. Du beschäftigst dich so lange du es irgendwie aushältst. Jetzt probierst du es noch einmal, gefühlt ist seit deinem ersten Guten-Morgen-Gruß eine Ewigkeit vergangen. "Hallooo", stürmst du voller Eifer rüber zu den anderen, die gemeinsam in einem Zimmer sind. "Hoooch maaaan...", stöhnt es aus dem Bett und ein erster Zweifel, ob du richtig bist, streift dich.

Das Stöhnen und Ächzen begleitet das lang ersehnte Aufstehen der anderen. Na endlich! Jetzt kann's also losgehen. Der eine der beiden schlurft ins Badezimmer, du hinterher. "Komm, lauf mal in die Küche und lass mich alleine aufs Klo gehen!", lautet die Anweisung, die ohne Blickkontakt auskommt. Ok. Also rüber wetzen, mal sehen, was in der Küche so alles Spannendes auf dich wartet! Hui, hier rumpelt es schon und ein Duft erfüllt den Raum - was das wohl ist? Du suchst dir alles zusammen, was du brauchst, um etwas höher klettern zu können, möchtest dir einen ersten Überblick verschaffen. "Sag mal! Was soll das denn! Komm sofort da runter!", Himmel! Hast du dich erschreckt! Mit einem Mal steht da jemand hinter dir und brüllt dich unvermittelt an. Beim Umdrehen verlierst du das Gleichgewicht und krachst von deinem Turm. "Ja! Genau das mein ich!". Du liegst auf dem Boden und schaust nach oben in ein verschlossenes Gesicht. Ein Kloß macht sich in deiner Kehle breit. Du schluckst ihn runter, hast die beiden sicher nur auf dem falschen Fuß erwischt.

Im Laufe dieses einen Tages wirst du immer wieder vor verschlossenen Türen stehen. Weil du eh nur alles kaputt machen würdest, weil du das eine nicht darfst und das andere auf keinen Fall schon können kannst. Weil die anderen gerade total beschäftigt sind und sich dies und jenes nun mal einfach nicht gehört. Deine Versuche, den anderen zu helfen oder ihnen ein bisschen zuzuschauen, um dir was abzugucken, werden nur lästig und zeitfressend sein, zu laut bist du ja sowieso. Das Gefühl, dass du so was von verkehrt bist, macht sich langsam und unbarmherzig in dir breit. Wenn du ganz ehrlich bist, fühlst du dich an diesem Ort unwohl, fragst dich, wieso sie dich überhaupt haben wollten und ob du hier gerne sein möchtest. Dir dämmert, dass du absolut keine Alternative hast und dir wird schlecht. Die Ohnmacht trifft dich wie eine Ohrfeige. Schnell wird dir klar, dass du hier nur überleben kannst, wenn du ganz fix lernst, wie du sein musst, damit die beiden möglichst positiv auf dich reagieren.

Du wirst lernen dein Selbst fest in dir zu verschließen. Du wirst einen Weg finden, mit der Nähe und Zuneigung auszukommen, die deinem konstruierten Ich entgegengebracht werden. Du wirst glauben zu vergessen, dass du, als du hier angekommen bist, voller Lebensfreude auf die Welt zugehüpft bist, alles lernen und alle lieben wolltest. Du wirst akzeptieren, dich so zu fühlen, wie alle anderen. Nicht wirklich willkommen.

Bordüre

Verlässlichkeit

Es geht doch nichts über einen graubunten Strauß Prinzipien.

Lass doch mal überlegen. Hm. Wenn ich etwas immer auf exakt die gleiche Weise mache. Meine ganz festen Regeln habe und mich strickt daran halte. Dann ist das ganz normal. Anders macht es niemand. Die Frage ist, wie eng unser Fokus dabei ist. Ob es eine erlaubte Toleranzgrenze gibt, innerhalb derer ich mich bewegen kann. Schrumpft unsere Blende auf null, hat es schnell etwas sehr Hartes. Starr. Leblos.

Warum ist das wohl so? Vielleicht, weil das Leben nunmal nicht starr ist. Jede Situation ist anders. Ein jedes Gegenüber ist anders. Und wir sind immer wieder anders. Oder geht es dir etwa immer gleich? Und änderst du niemals deine Meinung? Wo ist das Problem? Mit allem konstruiert Eingehaltenen ist es so eine Sache. Es ist einfach nicht authentisch. Und in genau diesen Momenten stellt sich bei deinem Gegenüber am ehesten ein Gefühl der Ohnmacht ein. Keine Chance, gegen diese dich schützenden Prinzipien anzukommen. Mit Vernunft haben sie nämlich, wenn du ehrlich bist, nur ganz wenig zu tun.

Ist es nicht möglich, verlässlich zu sein und dennoch situativ zu agieren, statt stets auf zurechtgelegte Konzepte zurückzugreifen?

Bordüre

Knopfzirkus

Mösjö Frechmaus ruft mich. Er sitzt im Arbeitszimmer, meinen klobigen Knopfkasten vor sich. Wie er es geschafft hat, dieses Ungetüm aus seinem offenbar wenig heimlichen Versteck zu wuchten, ist mir schleierhaft. Diese zauberhafte Schatzkiste ist eines der wenigen materiellen Dinge, die mir meine Mutter vererbt hat. Schon als Kind fand ich die zahllosen verschieden farbigen und geformten Plastikknubbel unheimlich spannend. MF geht es offenbar ganz genauso. Da sich meine Motivation, in geschätzten zehn Sekunden einige hundert Knöpfe vom Boden aufzusammeln, in überschaubaren Grenzen hält, schließe ich mit MF den Pakt, dass er eines der Schubfächer leeren darf, die anderen neunzehn jedoch nicht. Dass er immer wieder versuchen wird, diese ehrlicherweise eher einseitig getroffene Abmachung zu untergraben, sei ihm verziehen.

Wir sitzen also auf dem Boden unseres verkruschtelten Arbeitszimmers. Was wir da machen? Knopfschublade ausleeren, den Knöpfen mit offenen Mündern beim Fliegen zusehen, lauschen, wie schön es klackert, wenn sie aufschlagen, die bunte Collage am Boden bestaunen, ausprobieren, welche Knöpfe sich am besten als Kreisel eignen, die kleinen Wunderdinger wieder einsammeln und alles auf Anfang.

Bordüre

Ein halber Meter Blitzableiter

Heute geht alles schief. Wir haben morgens einen Termin in der Stadt und ausnahmsweise liegen wir erstaunlich gut in der Zeit - noch. Gerade putzten Mösjö Frechmaus und ich seine Zähne, er auf meinem Arm, als sich eine wohlige Wärme an meinem Bauch ausbreitet. MF hat - circa zwei Minuten nachdem ich ihn angezogen habe - nicht nur erfolgreich sich selbst, sondern mich gleich mit eingepieselt. Wenn schon denn schon. MF mache ich rasch frisch, bei mir drücke ich ein Auge zu. Eine Strickjacke drüber tut's auch. Also los. Wir sitzen tatsächlich noch recht überpünktlich im Auto, da passiert es. Krrrrrcks. Die Sonne blendet mich direkt von vorne dermaßen, dass ich praktisch maulwurfsblind bin. Ein wenig zu zügig nehme ich die Kurve - und den Zaun gleich mit. Shit. Das klang nicht gut. Dem Rumpeln nach, war das mehr als nur ein kleines Kratzerchen. Mein Auge wird mir Recht geben. Die Werkstatt, bei der wir noch schnell eine erste Schätzung einholen, ebenfalls. Wenn schon denn schon. Endlich sind wir unterwegs in die Stadt, meine Zeitreserve beinahe aufgefressen. Stau. Aber so was von. Laut Navi zweiundzwanzig Minuten Verzögerung. Wenn schon denn schon. Zu meinem Termin komme ich eine Dreiviertelstunde zu spät. Allmählich stellt sich Kopfweh ein.

Kurz bevor wir später am Tag wieder zu Hause ankommen, schläft MF im Auto ein, dass er beim in die Wohnung Tragen aufwachen wird, ist eine sichere Sache, aber um im Auto zu dösen, ist es zu kalt. Aus meinem Kopfweh ist mittlerweile eine mittlere Migräne geworden. Nach zwei verzweifelten Maus-zum-Mittagsschlaf-Überredungsversuchen ziehen wir wieder los, müssen einiges erledigen. Im Treppenhaus kommen wir gewohnt langsam voran, zu gucken gibt es schließlich immer was. Gerade passt mir das so gar nicht und ich schnappe MF ohne Vorwarnung und schleppe ihn wie ein Stück Holz schnörkellos meinem Ziel entgegen. Nur ist MF aber nunmal kein willen- und lebloses Stück Holz. Er hat zwei Beine, Kopf und Herz. Und diese will er auch gebrauchen. MF weint und versucht sich zappelnd aus dem Schwitzkasten zu befreien. Als ich ihn draußen laufen lasse, ist der Ärger vergessen. Ein bisschen motzig fordere ich MF auf mit zum Auto zu kommen. Das Ungesagte in meinem Tonfall aufnehmend und umsetzend, hüpft er stattdessen in die nächstgelegene Pfütze, sein Blick könnte aufmüpfiger kaum sein. Mir reißt der Faden. Was einmal funktioniert hat, klappt auch wieder und ich packe MF und merke, dass mein Griff sehr unsanft ist. Der angesammelte Stress des versemmelten Tages entlädt sich in dieser Berührung. MF weint. Ich schleppe ihn unbarmherzig zum Auto, meine Achseln könnten halb Afrika mit Wasser versorgen. Angeschnallt sitzen wir nun da. MF weint noch immer, ist sauer und frustriert.

Das war nicht fair. Ich drehe mich zu diesem kleinen Menschen um, umfasse sachte sein Beinchen, entschuldige mich dafür, ihn so ruppig angepackt zu haben und noch dazu ohne Vorwarnung. Versichere ihm, dass das bestimmt ein ganz doofes Gefühl ist und er da gerade für etwas herhalten musste, wofür er aber überhaupt nichts kann. Dass er genau richtig ist. Und dass ich es gerade nicht besser hinbekommen habe. Die Worte versteht mein anderthalb Jahre alter Frechfrosch sicherlich überwiegend nicht. Aber er spürt die Botschaft. Und hört auf zu weinen. Lacht sogar, weil ihm etwas Witziges einfällt oder weil er erleichtert ist.

So einfach ist das.

Bordüre

Der will immer so spielen wie er will

Kinder sind doch unverschämt! Ich meine, da dackelt man sich den lieben langen Tag ab, rudert unermüdlich mit den kurz-vor-überforderten Armen, hat sich zwar schon irgendwie bewusst für ein Kind entschieden, war sich da aber der Ausmaße der Aufgabe nicht so richtig bewusst. Da muss frühzeitig die frühkindliche Förderung geplant und das Outfit für Tante Käthes Geburtstagsfeier zurechtgefummelt werden, es will dafür gesorgt sein, dass der eigene Nachwuchs den Nachbarn keinen Ärger macht und in den diversen Spielgruppen wenn überhaupt positiv auffällt (was auch immer das heißen mag). Und überhaupt werden sämtliche Kräfte in die Familien-PR investiert, um um Gottes Willen einen guten Eindruck zu machen. Höher, schneller, weiter.

Und dann das! Man stelle sich eine zum Umfallen gestresste Mutti vor. Diese - man darf ihr ob ihres großen Opfers guten Gewissens den Beinamen Theresa geben - setzt sich nun zwischen der Zubereitung von Spinat mit Fischstäbchen und dem Schwatz mit der hinterfotzigen Nachbarin hin, um ihren Spross in den Genuss des gemeinsamen Spiels zu bringen. Sie hat einen Plan, der Plot steht bereits, vor ihrem inneren Auge nimmt der Ablauf gewohnt tabellarische Züge an. Doch der kleine Hans spielt was ganz anderes. Das! gibt! es! nicht! Muttis Körper wird zum Brett, alles sträubt sich gegen dieses sinnlose So-vor-sich-her-Spielen: "Da mach ich nicht mit!". Und Hans? Wen kümmert's...

Bordüre

Wir gucken mit den Augen

...ach nee!

Ich hole Mösjö Frechmaus bei einer Bekannten ab. Vor ihrem Haus parkt das Auto eines Nachbarn. Mit seinem mäusezarten Zeigefinger zeigt MF auf einen in die Jahre gekommenen, in Standartblau lackierten Opel. Die rot-orange-weißen Rücklichter haben seine Aufmerksamkeit erregt, begeistert versucht er diese atemberaubende Entdeckung mit uns zu teilen.

Nun kann man hierauf so und so reagieren. Eine Möglichkeit wäre, die Karte für eine Reise ins Kinderstauneland anzunehmen. Das Alltäglichste vom Alltäglichen ausgiebigst zu feiern, das Allerkleinste bewundernd wertzuschätzen und auch noch im durchgetaktetsten Moment innezuhalten, um einfach kurz dazustehen und das Gesicht in den Wind zu halten. Eine andere Möglichkeit zeigt mir meine Bekannte auf: "Wir gucken mit den Augen!", doziert sie mit ungelogen erhobenem Zeigefinger. Ein ängstlicher Blick zum Hause des Nachbarn, dem offensichtlich der Popel, äh, Opel gehört. "Tu das Auto nicht anfassen. Der Herr Schmidt schaut immer, dass da nix rankommt, da dürfen wir nur gucken! Schön vorsichtig!". Tatsächlich ist es meine Bekannte, die sich erneut umsieht, mein Gefühl sagt mir, dass sie die letzten so eloquent vorgetragenen Worte weniger für den kleinen MF formuliert hat, als vielmehr für - ja, für wen eigentlich? Geht ihre ferngesteuerte Angst, bloß nichts falsch zu machen, wirklich so weit, dass sie befürchtet, dieser Hauch von Zeigefinger könnte alleine durch's auf den Scheinwerfer Zeigen eben diesen zerkratzen? Ich sehe bereits die Schlagzeile im hiesigen Lokalblättchen vor mir: 



Gewaltverbrecher immer jünger

Hinter-Pusingen. Am vergangenen Nachmittag ereignete sich ein schweres Verbrechen im sonst so herrlich engen Vorvorort Hinter-Pusingen. Ein Opel wurde aus dem Hinterhalt angegriffen, der Täter gerade mal ein gutes Jahr alt. Müssen wir um die Sicherheit unserer Opel fürchten? Darf es angesichts dieses schändlichen Aktes sein, dass sich der Täter noch auf freiem Fuß befindet, das nächste Opfer möglicherweise bereits im Visier? Wir fordern scharfe Strafen für derartige Vergehen und eine Belohnung für alle, die Kindern frühestmöglich die nötigen Schranken aufzeigen. Notfalls mit aller gebotenen Gewalt. Wir brauchen Ihre Unterstützung und fragen Sie: In was für einer Gesellschaft möchten Sie leben?

Bordüre